Tod am Zollhaus
respektlose Sophie würde schon aufpassen, dass er sich nicht an seinem eigenen Stolz verschluckte.
Es gab noch einen anderen Grund für Elsbeths Sorge. Sie war schuld, wenn Martin doch noch starb. Sie ganz allein. Aber wenn Martin erwachte und gesund wurde, und daran glaubte sie fest, würde sie immer wissen, dass er ohne ihre Lüge gestorben wäre. Das war den Einsatz wert.
Sie hatte Kletterichs Kuren und Blutzapfereien nie getraut. Die waren gegen die Natur, davon konnte kein Mensch gesund werden. Martin wurde davon nur schwächer.
Dr. Struensee war nicht gekommen. Ihm vertraute Elsbeth wie keinem anderen, seit es ihm gelungen war, die Waisenkinder von der Krätze zu heilen. Aber er war im Pinnebergischen unterwegs und prüfte die Arzneien der Landapotheken.
Die Heilerin, die Titus gestern in ihre Küche brachte, sah ein bisschen unheimlich aus, aber Elsbeth hatte an ihr Kräfte gespürt, die Kletterich nie haben würde.
Die Alte sah sich in der Küche um und strich über die kupfernen Töpfe, als sei sie nach einer langen Reise heimgekehrt. Sie sprach nicht viel, aber schließlich fragte sie, ob Elsbeth auch Ingwer in das Holunderkonfekt knete wie ihre alte Freundin Gerda.
Elsbeth konnte sich nicht vorstellen, wie eine, die seit Jahrzehnten mit den Komödianten durchs Land zog, zur Vertrauten einer Herrmanns’schen Köchin geworden war. Aber wer Gerdas Holunderkonfekt-Rezept kannte, musste ihr sehr vertraut gewesen sein. Und wem Elsbeths strenge Ziehmutter ihre Rezepte verriet, der konnte kein böser Mensch sein.
Elsbeth hatte nicht gedacht, dass es so leicht sein würde, Frau Augusta zu überzeugen, die Alte an Martins Bett zu lassen.
«Wenn du ihr vertraust und genau achtgibst, was sie tut», hatte Augusta gesagt, «soll sie ihre Kunst versuchen. Wir haben nicht viel zu verlieren. Und lass sie mittags kommen, wenn mein Neffe an der Börse ist.»
Elsbeth hoffte, Augusta würde nie erfahren, dass Lies, so hieß die Kräuterfrau, eine Fremde und nicht die Tante einer Freundin war. Auch Frau Augusta musste nicht alles wissen.
Elsbeth hatte schnell begriffen, dass die Komödianten Martin genauso dringend lebend brauchten wie Herrmanns. Nach einer langen, schlaflosen Nacht entschloss sie sich, Augusta um die Erlaubnis zu fragen, und bald darauf stand Lies an Martins Bett.
Sie sah ihn lange an. «Öffne das Fenster, Mädchen», sagte sie zu Sophie, «draußen scheint die Sonne, und hier riecht es wie in einem Kaninchenstall.»
Sie deckte den Kranken gut zu und wickelte ihm behutsam ein warmes Tuch gegen die Zugluft um den Kopf. Elsbeth verstand nicht, was Lies dann tat. Sie legte sanft ihre Hände auf sein verquollenes Gesicht und murmelte leise unverständliche Worte. Es hörte sich nicht wie ein Gebet an, aber Martins Atem ging bald ruhiger, er löste seine ständig verkrampften Fäuste, und es schien, als sei er nicht mehr so totenblass.
Elsbeth schwitzte, faltete die Hände vor der Brust und erinnerte sich daran, dass es Hexen und schwarze Magie schon lange nicht mehr gab.
Lies strich über Martins Hände, hob die Decke und betrachtete und befühlte seine Füße. «Mach das Fenster wieder zu», murmelte sie, «sonst wird es zu kalt. Und hol reine Laken und eine große Schüssel mit warmem Wasser. Niemand mag aufwachen, wenn ihm der eigene kranke Gestank so faulig in die Nase steigt.»
Sie erklärte der Köchin, welche Kräuter und Wurzeln sie brauche, um einen heilenden Tee zu kochen, und welche, um sie morgens, mittags und abends in einer Räucherpfanne zu verbrennen.
«Nur wenig Rauch, er soll nicht husten, aber genug, um die giftigen Fieberdämpfe zu vertreiben.»
Elsbeth hörte auf zu schwitzen. Sie kannte alle befohlenen Kräuter, die meisten hingen fein gebündelt an ihren Küchenbalken. Gewiss konnte keines Martin schaden.
«Liebt er dich?» Lies sah Sophie streng an.
Sophie nickte zögernd. Warum fragte sie das? Die Alte verwirrte sie. Sie schien arm zu sein, aber sie wirkte wie eine, die gewohnt war, dass man ihr überall gehorcht.
Von da an wurden Sophies Krankenwachen leichter.
«Wenn er dich liebt, will er dich hören», sagte Lies und trug ihr auf, zu Martin zu sprechen.
«Erzähl ihm, was du willst, nur keine Sorgen. Zum Jammern ist Zeit, wenn ihr verheiratet seid, jetzt nicht. Sing ihm Liebeslieder, sprich von allem, was er gerne hört.»
«Aber er hört mich doch nicht.»
«Woher weißt du das? Er steht an dem dunklen Fluss in die andere Welt. Da sind viele Stimmen, die
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