Tod am Zollhaus
schlüpfte in Kniehosen, Hemd und Wolljacke. Sie band ihr dickes Haar im Nacken zu einem Zopf und schlich vorsichtig die Treppe hinunter. Die Stadt lag längst in tiefem Schlaf. Irgendwo in den verwinkelten Gassen und Höfen der Neustadt jammerte eine Katze, und ab und zu drang aus Titus’ und Sebastians Zimmer krächzendes Schnarchen. Sonst war alles still. Die Sperrstunde hatte auch dem Grölen der Männer im Bremer Schlüssel ein Ende gemacht.
Rosina setzte sich auf einen Holzklotz an der Hauswand und lehnte sich an das raue Fachwerk. Der Wind hatte gedreht und von Südwesten laue Frühlingsluft herangeweht. Selbst jetzt in der Nacht war sie noch sanft wie ein Seidentuch. Der Rosenstrauch, der an der Wand emporrankte, trug schon dicke Blattknospen. Noch ein paar Tage warmes Wetter, und die ersten grünen Blättchen würden sich entfalten.
Wie konnte Helena nur so ruhig schlafen? Am Nachmittag war es ihr endlich gelungen, unbemerkt einen Gruß durch das vergitterte Fensterloch des Kerkers zu werfen. Jean wusste jetzt, dass sie da waren und versuchten, den Mörder des Schreibers zu finden. Allerdings stand nicht auf dem Zettel, dass Helena und Rosina eine unerwartete Verbündete gefunden hatten. Die Dame, die vorgestern plötzlich im Kröger’schen Hof aufgetaucht war, hatte sie davon überzeugt, dass es besser sei, ihren Besuch vorerst noch geheimzuhalten. Rosina traute dieser Frau in den feinen Kleidern nicht. Helena hatte recht. Sie konnten sich nicht leisten, das Angebot auszuschlagen. Aber Rosina war auf der Hut.
Ob Jean auch schlief? Sie würde nie den Tag vergessen, an dem er sie auf der Straße nach Leipzig aufgelesen hatte, nass, hungrig und vor lauter Angst kratzbürstig wie eine Wildkatze. Er hatte sie für einen Jungen gehalten, einen entlaufenen Pagen vom Altenburger Schloss oder einem der großen Herrenhäuser.
Das war fünf Jahre her, seitdem reiste sie mit den Komödianten und hieß Rosina. Auch wenn sie sich noch so sehr bemüht hatte, ihren richtigen Namen und ihren Vater zu vergessen, die Narbe auf ihrer linken Wange machte das unmöglich.
Rosina wurde schläfrig, und gerade als sie die Haustür öffnete, um wieder zurück ins Bett zu gehen, hörte sie ein Geräusch. Sie blieb stehen und lauschte. Da, wieder hörte sie ein Kratzen und Schurren. Sie lief rasch und fast geräuschlos über den Hof und lauschte an der Stalltür.
Bei den Pferden war alles ruhig. Die Geräusche kamen aus der Komödienbude hinter dem Stall. Das musste Mira sein. Die dicke rote Katze der Krögerin war seit gestern verschwunden. Vielleicht war sie durch ein Loch in den morschen Bodenbrettern gefallen und fand nicht mehr heraus.
Und wenn es nicht die Katze war?
«Mira», rief sie leise, «Mira?»
Nun war es wieder still.
Entschlossen öffnete sie die Budentür und erstarrte. In dem Durcheinander von alten und neuen Brettern saß ein Mann in einem schwarzen Rock mit weißem Kragen. Er lehnte mit dem Rücken gegen eine umgestürzte Bank, und das Mondlicht, das nun hell auf sein Gesicht fiel, beleuchtete einen vor Entsetzen verzerrten Mund und verquollene, halbgeöffnete Augen.
Bevor der Schrei hervorbrach, der in Rosinas Kehle kroch, legte sich ein kräftiger Arm um ihre Brust, und eine Hand presste sich fest auf ihren Mund. Sie spürte, wie ihre Knie nachgaben, dann versank sie in einem schwarzen Abgrund. Rosina, die vor nichts Angst hatte, war zum ersten Mal in ihrem Leben in Ohnmacht gefallen.
Claes fühlte sich viel zu unruhig, um schon zu schlafen. Anne und Braniff hatten das Haus in der sicheren Begleitung von zwei Laternenträgern verlassen. Wie hatte er je denken können, dass Anne in dieses mörderische Komplott verwickelt war? Er vertraute auf sein Gefühl für Menschen, aber seit der Sache mit Agnes war er unsicher.
Doch Anne war anders. Anne. Er sah wieder ihr Gesicht vor sich, den warmen Glanz in ihren Augen, als er ihr die Kamee gab. Er fühlte ihre schmale Hand auf seinem Arm und atmete diesen sanften Duft von Jasmin. Als er sie im vergangenen Herbst kennenlernte, war sie ihm spröde erschienen. Er war blind und taub gewesen.
Claes griff nach den Briefen, die sie ihm von Jersey mitgebracht hatte, legte Emilys lächelnd zurück auf den Tisch und erbrach zuerst Pauls Siegel.
Der gute alte Paul. In seiner schönen runden Schrift plauderte er von den Belanglosigkeiten seiner heiteren Tage. Er schien sich nie um seine Geschäfte zu sorgen. Claes beneidete ihn um sein leichtes Gemüt und seine
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