Tod am Zollhaus
ihn über das Ufer locken. Wenn du ihn nicht zurückrufst, werden sie gewinnen.»
Und so wurde Martin Sievers, der nie etwas anderes als Kontobücher, Börsenanschläge und ab und zu die Bibel gelesen hatte, in die Welt der Romane und Schäferlieder eingeführt.
Während im unteren Stockwerk der vierte Gang serviert wurde, Rinderbraten auf ungarisch, reichlich gewürzt mit Äpfeln, Wacholderbeeren, Pfeffer, Ingwer, Muskat, Kümmel und Safran, las Sophie Martin aus dem neuen Roman «Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva oder Der Sieg der Natur über die Schwärmerei» vor.
Das Buch war ein Geschenk von Augusta und handelte von amüsanten und äußerst frivolen Liebesverwicklungen. Sophie las es schon zum zweiten Mal. Natürlich waren die berühmten Abenteuer des Robinson Crusoe als Lektüre für einen kranken Verlobten weitaus passender als der Roman von diesem unbekannten Herrn Wieland. Aber sie befürchtete, das schwere Schicksal und die lebensbedrohlichen Abenteuer des Schiffbrüchigen könnten Martin endgültig über den dunklen Fluss treiben.
Um diese Zeit hatte sich die Stimmung im Esszimmer endlich etwas gelöst. Augusta tat, was sie konnte, um aus ihrem stocksteifen Neffen wieder einen lebendigen Menschen zu machen. Mit geringem Erfolg, aber es reichte für ein anregendes Gespräch.
Braniff, fand Claes nach einer Weile, war vielleicht doch nicht so übel.
Der Captain genoss das Essen und den reifen Burgunder, plauderte leicht und unaufdringlich, drängte nie seine Weltläufigkeit in den Vordergrund und zeigte sich als kluger Gesprächspartner in Fragen der Politik und des Handels.
Bis zum vierten Gang. Dann wurde er auf eine Weise privat, die Claes doch sehr unpassend fand.
«Anne, lass uns doch über das Geheimnis um die Post zwischen Hamburg und Jersey reden.»
Eine zarte Röte stieg in ihr Gesicht, und sie blickte Braniff stirnrunzelnd an. «Ich weiß nicht, was du meinst. Ich weiß von keinem Geheimnis.»
«Dann lass mich reden. Auch wenn es mich natürlich überhaupt nichts angeht.» Er sah Claes wieder mit seinem spöttischen Blinzeln an, trank einen Schluck Burgunder und erzählte ihr frech, was ihm Claes bei ihrer Ankunft im Hafen voller Ärger verraten hatte. Er erzählte von den Briefen, die sie nicht beantwortet, von der Kamee, für die sie sich nie bedankt hatte.
Claes hätte nichts dagegen gehabt, ganz plötzlich unsichtbar zu werden.
«Aber ich habe Eure Post nie bekommen», rief Anne und sah Claes zum ersten Mal an diesem Abend offen an.
«Und meine Briefe? Habt Ihr vielleicht meine Briefe auch nicht bekommen? Ich war sehr verletzt, weil Ihr nie geantwortet habt. Nur ein kleiner Gruß. Das wäre ja schon genug gewesen. Aber so gar keine Zeile nach den langen gemeinsamen Wochen …»
Claes hatte tatsächlich niemals einen Brief von Anne bekommen. Und genau in diesem Moment fiel Augusta ein, dass sie Braniff unbedingt ihre Hyazinthenzucht zeigen musste.
«Captain», sagte sie, «gebt mir Euren Arm. Ich weiß, dass Ihr Hyazinthen liebt. Nein, sagt nichts, es macht mir wirklich keine Mühe. Bereitet einer alten Gärtnerin die Freude, ihre Zöglinge zu bewundern.»
Herrmanns und Anne erhoben sich sofort, um der Schrulle einer alten Dame höflich zu folgen, auch wenn sie wie aus heiterem Himmel mitten in ein so brennend wichtiges Gespräch platzte.
«O nein», rief Augusta, «ich sehe Euch an, liebe Anne, dass Ihr den schweren Duft der Blüten nicht vertragt. Ihr bleibt hier, und mein Neffe wird Euch Gesellschaft leisten. Er findet Blumen nicht besonders interessant. Captain, Euren Arm!»
Braniff beeilte sich, ihrem Wunsch zu folgen, und sagte mit großem Ernst und ganz eigentümlich gepresster Stimme: «Euer Takt ist bewundernswert, Frau Augusta. In der Tat erlitt Mademoiselle Anne erst kürzlich nur beim Anblick der Zeichnung einer Hyazinthe einen Anfall von Schwäche. Sie ist eine so zarte Seele …»
Damit fiel die Tür hinter Augusta und dem Captain ins Schloss.
Als sie nach einer halben Stunde zurückkehrten, von einem Glas Rosmarin-Branntwein aus Augustas Schrank besonders wohlgestimmt, erwartete sie ein hübscher Anblick. Anne und Claes saßen gar nicht mehr feindlich, sondern in schönster, tatsächlich in innigster Eintracht auf der gepolsterten Bank. Auf Annes Busen leuchtete die Kamee, die nun endlich den ihr zugedachten Platz bekommen hatte. Dass die Farbe des Steins so gar nicht zu Annes resedagrünem Kleid passte, fiel nur Braniff auf. Und der war mit sich
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