Tod an der Ruhr
Möllenbeck um den Sarg herum schritt.
Auf einem Tischchen in der Ecke der Stube lagen Stoffe. Dabei stand eine geöffnete Holzschatulle, übervoll mit aufgerollten Garnen, Knöpfen und verschiedenfarbigen Stoffläppchen. Mehrere Nadeln steckten darin. Obenauf lag ein Fingerhut.
Martin Grottkamp verharrte immer noch in der Stubentür. Ihn schauderte bei dem Gedanken an das, was sie vorhatten. Es war ihm, als starre der blasse Tote ihn abweisend an.
Terfurths Kopfwunde war von einem Stück Stoff bedeckt. Es war weiß. Alles um den Leichnam herum war weiß. Das Leinen, mit dem der Sarg ausgelegt war, das Hemd, in das der Oberkörper des Toten gehüllt war und das Tuch, das ihn vom Bauch an abwärts bedeckte.
Möllenbeck zog es bis zum Becken herunter und öffnete die Knopfreihe des Hemdes vom Hals an abwärts. Als er eine Hand in das aufgeknöpfte Hemd schob und den toten Körper betastete, schüttelte es Grottkamp.
»Was ist los mit dir, Martin?«, fragte sein Freund. »Ein Hasenfuß bist du doch nie gewesen. Jetzt komm! Ich brauch deine Hilfe.«
Grottkamp riss sich zusammen. Er trat an den Sarg, packte auf Möllenbecks Weisung die ineinandergelegten Hände Terfurths an den Gelenken und hob sie ein Stück in die Höhe, so dass der Heildiener das geöffnete Hemd auseinanderziehen und den Körper des Toten beschauen konnte.
Martin Grottkamp starrte unterdessen auf das Bild an der gegenüberliegenden Wand, das den Herrn Jesus beim letzten Abendmahl im Kreise seiner Jünger zeigte.
»Jetzt muss du ihn unter den Achseln packen und den Oberkörper anheben. Dann kann ich das Hemd hochziehen und seinen Rücken untersuchen.«
Grottkamp probierte es. Er schob seine Hände unter Terfurths Schultern und wandte sein Gesicht dem Herrn Jesus und seinen Jüngern zu. Als er den Oberkörper hochzog, entwich dem Mund des Toten rasselnd ein Luftstoß.
Erschrocken ließ Martin Grottkamp den leblosen Körper aus den Händen gleiten und sprang einen Schritt zur Seite. Terfurths Kopf fiel schräg zurück. Der weiße Lappen war von seiner Wunde gerutscht. Die starren Augen des Toten waren auf Grottkamp gerichtet.
»Verfluchter Mist!«, entfuhr es dem.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«, stöhnte Jacob Möllenbeck.
»Er hat gerülpst, verdammt noch mal«, entgegnete Grottkamp angewidert.
»So ein Blödsinn!«, schimpfte Möllenbeck. »In einem Leichnam befindet sich natürlich Luft, und wenn du ihn bewegst, dann kann es vorkommen, dass diese Luft entweicht. Das ist doch völlig normal.«
Noch einmal riss Grottkamp sich zusammen. Dieses Mal gelang es ihm ohne Zwischenfall, den Oberkörper so weit anzuheben, dass Möllenbeck das Hemd hochziehen und Terfurths Rücken untersuchen konnte.
Als der Heildiener anschließend den Leichnam wieder ordentlich bettete, wandte Martin Grottkamp sich ab. Er betrachtete eingehend die Darstellung des Abendmahls an der Wand, während Möllenbeck Terfurths Hemd zuknöpfte und die weißen Tücher glatt zog.
Erst beim Verlassen der Stube warf Grottkamp noch einmal einen Blick auf den Toten. Der lag wieder so da wie vor der Leichenschau. Nur die halb offenen Augen schienen jetzt nicht mehr auf ihn gerichtet zu sein. Wie gestern an der Unglücksstelle starrten sie ins Leere.
SECHS
Die Witwe Elisabeth Terfurth hatte auf der Bank hinter ihrem Haus auf den Polizeidiener und den Heildiener gewartet.
Als die Männer durch die Hintertür den Garten betraten und erleichtert die laue Luft des Septembertages einsogen, spürte Elisabeth, dass die beiden alten Freunde ihr keine schlechte Nachricht überbringen würden.
Martin Grottkamp setzte sich neben sie, und Jacob Möllenbeck sagte ohne Umschweife: »Nichts! Keinerlei Spuren von Gewalt.«
»Es braucht also niemand davon zu erfahren, dass ihr ihn untersucht habt?«, wollte Elisabeth Terfurth wissen.
»Nein, niemand«, antwortete Grottkamp.
»Es wird unter uns bleiben«, bestätigte Jacob Möllenbeck.
Dann verabschiedete sich der Heildiener. Er wollte zurück zur Cholerabaracke.
Eine Weile saßen Elisabeth Terfurth und Martin Grottkamp schweigend auf der Bank. Irgendwann sagte er:
»Erstaunlich, dass die Sonne scheint, wo es doch auf Ägidius geregnet hat.«
Elisabeth lächelte.
Zum zweiten Mal an diesem Tag bemerkte Grottkamp ein Lächeln in ihrem Gesicht. Es war nicht scheu und flüchtig wie das, mit dem sie ihre Freunde begrüßt hatte.
Dieses Lächeln war beständig. Nicht heiter war es, sondern wehmütig, ja traurig. In ihm fand Martin
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