Tod an der Ruhr
war nicht ungewöhnlich, dass er des Nachts wegblieb. Vielleicht hat er in den Gasthäusern übernachtet, in denen er sich betrunken hat. Vielleicht hat er auch bis zum Morgen getrunken und ist dann zur Hütte getorkelt. Ich weiß nicht viel über das Leben, das er in letzter Zeit geführt hat. Aber eins glaube ich zu wissen: Julius Terfurth hatte sich vorgenommen, sich zu Tode zu saufen.«
»Allzu ähnlich waren wir uns denn wohl doch nicht«, knurrte Grottkamp.
»Ach Gott, Martin! Ich weiß doch, dass du nicht trinkst und dass du kein gottloser Mensch geworden bist. Nein, das, was dich mit Terfurth verbindet, ist die Sehnsucht nach der Welt, in der ihr groß geworden seid, nach einer Welt, die es nicht mehr gibt. Natürlich unterscheidet ihr euch auch. Du bist stärker als er, viel stärker sogar. Ja, Martin Grottkamp, du bist so stark, dass du, trotz aller Enttäuschungen in deinem Leben, auch in dieser neuen, fremden Welt deinen Platz gefunden hast. Und genau dafür war Julius Terfurth zu schwach.«
Eine Weile saßen der Bauernsohn Martin Grottkamp und seine Jugendliebe Liesken Kückelmann, die seit gestern die Witwe Terfurth war, nebeneinander in der unverhofften Sonne des Septembermittags und schwiegen.
Grottkamp musste an die Fotografie denken, die Terfurth bei sich getragen hatte, und an die Verwirrung, die ihn gestern Abend beim Anblick des Bildes ergriffen hatte.
»Ich hab dir seine Sachen mitgebracht«, sagte er und legte die Taschenuhr und den Geldbeutel in Elisabeths Schürze.
Sie nickte.
»Hat Terfurth geraucht?«, fragte er.
»Früher hat er mal geraucht«, antwortete sie. »Ob er es in letzter Zeit wieder angefangen hat, kann ich dir nicht sagen. Zu Hause hat er es jedenfalls nie getan. Aber hier war er ja auch kaum noch.«
Grottkamp zog die Pfeife, die er an der Unglücksstelle gefunden hatte, aus seiner Rocktasche und zeigte sie Elisabeth. »Könnte ihm die gehört haben?«
»Ich weiß es nicht.«
»Weißt du denn, ob er hin und wieder im Besitz von Tabak war? Ich meine, wenn er einen Tabaksbeutel oder eine Tabaksdose hatte, dann muss er sie doch irgendwo aufbewahrt haben. Vielleicht in einem Schrank oder in einer Schublade.«
»Oben im Flur, zwischen den Schlafkammern, da steht eine kleine Truhe. Darin hat der Julius all seine Sachen aufbewahrt. Ich habe nie hineingesehen. Wirklich nie! Du kannst nachschauen, wenn es wichtig für dich ist. Wenn du die Stiege hochgehst, siehst du die Truhe schon vor dir.«
»Es ist wichtig«, sagte Grottkamp und fügte hinzu: »Und wenn ich nachgesehen habe, dann muss ich auch gehen.«
»Ja natürlich«, sagte Elisabeth. »Ich muss mich um das Essen kümmern.«
Der Flur, in dem Grottkamp stand, als er die enge Holztreppe hinaufgeklettert war, war kaum breiter als die Stiege selbst und maß höchstens vier Schritte in der Länge.
Die Räume, die hinter den beiden Holztüren auf der linken Seite lagen, mussten sehr klein sein. Die Schlafkammern der Kinder, vermutete er. Rechter Hand gab es nur eine Tür, die augenscheinlich zu einem größeren Raum führte, bei dem es sich nur um das eheliche Schlafzimmer handeln konnte.
Vor Grottkamp, am Ende des schmalen Flures, stand die Truhe, genau unter einer kleinen Luke in der Dachschräge. Die mit Eisenbeschlägen verzierte Holzkiste war nicht abgeschlossen. Er klappte den Deckel hoch und lehnte ihn gegen die Wand. Durch die Dachluke fiel Licht auf die wenigen Gegenstände, die in der Truhe lagen.
Auf einem dünnen Stapel Papiere entdeckte Grottkamp zuoberst Terfurths Gesellenbrief. Daneben fand er ein zerfleddertes Andachtsbüchlein, in dem er eine Weile herumblätterte. Der mit unsicherer Mädchenhand geschriebene Namenszug »Margaretha Terfurth« und die Jahreszahl 1808 ließen ihn vermuten, dass das Büchlein einmal der Mutter des Hammerschmieds gehört hatte.
Als er es zurücklegte, beschlich ihn das Gefühl, dass er schon viel tiefer in das so plötzlich zu Ende gegangene Leben des Julius Terfurth eingedrungen war, als er es gewollt hatte.
Vor ihm in der Truhe lagen ein Kartenspiel, Rasierzeug und ein blank gewichster Ledergürtel, wie ihn die Soldaten trugen. Es war nicht nötig, weiter in den Sachen des Verstorbenen herumzuwühlen. Dass es in der Holzkiste weder Tabaksbeutel noch Tabaksdose gab, das sah er auch so. Und mehr wollte er nicht wissen.
Als er den Deckel zugeklappt hatte und zurück zur Treppe ging, erkannte er, dass die Tür zur großen Schlafkammer nur angelehnt war.
Nein, es gab
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