Tod an der Ruhr
keinen Grund, sie zu öffnen und hineinzusehen! Das Leben des Ehepaars Terfurth interessierte ihn keinen Deut mehr, als es für die Aufklärung dieses undurchsichtigen Todesfalles notwendig war.
Doch in diesem Augenblick wähnte Martin Grottkamp sich nicht vor dem ehelichen Gemach der Terfurths, sondern vor der Schlafkammer von Elisabeth, und er konnte der Versuchung nicht widerstehen, die Tür ein Stück weiter auf zustoßen und seinen Blick durch das Zimmer schweifen zu lassen.
Er sah den Spiegel an der Wand, die Waschschüssel auf der Kommode, daneben das achtlos liegen gelassene Unterkleid und darauf die feinen, weißen Strümpfe. Grottkamp atmete schwer. Trug solche Strümpfe nicht auch die Frau auf der Fotografie?
Sein Blick fiel auf die Bettlade, auf die zerwühlten Oberbetten, auf die beiden zerknüllten Kopfkissen. Er starrte das Bett an, hörte Elisabeth unten in der Küche hantieren, begriff ganz plötzlich, was er da sah, und ihm stockte der Atem.
Julius Terfurths Witwe, die geborene Elisabeth Kückelmann, hatte die Nacht nach dem Tod ihres Gatten nicht allein verbracht. Während der Tote aufgebahrt unten in der Stube lag, hatte sie ihre Bettstatt mit einem anderen geteilt.
Grottkamp hastete die Treppe hinunter, rief einen flüchtigen Abschiedsgruß in die Küche hinein und verließ eilig das Haus der Terfurths.
Eigentlich hatte Grottkamp geglaubt, für den heutigen Tag genug unangenehme Überraschungen erlebt zu haben.
Nach seinem Besuch bei Elisabeth Terfurth hatte er mit wenig Appetit in der Marktschänke zu Mittag gegessen, war einmal gemessenen Schrittes die Bahnhofstraße entlanggegangen, war energisch den Steinbrink hinauf bis zur Kirche der Evangelischen marschiert und unschlüssig wieder zurückgeschlendert. Dann war ihm in den Sinn gekommen, sich eine Weile zum Ausruhen und zum Nachdenken auf die alte Holzbank an der Friedhofshecke zu setzen.
Auf dem Weg dorthin hatte er nur noch kurz die beiden Arrestzellen des Sterkrader Polizeigefängnisses inspizieren wollen. Sie waren nahe beim Friedhof in einem Holzschuppen untergebracht, der zugleich als Unterstand für die Feuerspritze des Dorfes diente. Weil der Schuppen und das Land, auf dem er stand, einem gewissen Pittermann gehört hatten, nannten die Sterkrader ihr kleines Gefängnis Pitterkasten.
Die Feuerspritze und der neue fünfundzwanzig Fuß lange Schlauch hatten sich in einem ordnungsgemäßen Zustand befunden. Aber als Grottkamp dann die erste der beiden Zellentüren entriegelt hatte, wäre sie ihm beinahe entgegengefallen.
Morsch war sie schon eine Weile gewesen, die linke Zellentür im Pitterkasten, und er hatte Gemeindevorsteher Overberg schon vor Monaten darauf hingewiesen, dass diese Tür dem Freiheitsdrang eines kräftig gewachsenen Gefangenen wohl nicht mehr lange standhalten werde.
»Dann sperren Sie ihn eben in die andere Zelle«, hatte Overberg entgegnet. »Wann haben wir in Sterkrade denn schon zwei Polizeigefangene gleichzeitig?«
Danach war die Angelegenheit in Vergessenheit geraten. Aber jetzt war Grottkamp entschlossen, diesem untragbaren Zustand ein schnelles Ende zu machen. Morgen würde er Overberg unmissverständlich darauf hinweisen, dass eine Erneuerung oder zumindest eine Reparatur der Tür dringend erforderlich war.
In der Regel empfand Martin Grottkamp die Verpflichtung, dem Gemeindevorsteher allmorgendlich seine Aufwartung zu machen, als notwendiges Übel. Andererseits ergab sich so die Gelegenheit, dem Herrn Vorsteher täglich seine Meinung zu polizeilichen Angelegenheiten kundzutun. Dass er mit Carl Overberg einen Vorgesetzten hatte, der die Meinungsäußerungen eines untergeordneten Offizianten zur Kenntnis nahm und sie gelegentlich sogar in seine Entscheidungen einbezog, betrachtete Grottkamp als einen ausgesprochenen Glücksfall.
Gelegentlich überging der Herr Vorsteher allerdings auch selbstgefällig die Vorschläge und Einwände seines Polizeidieners. Ein gewisses Maß an Ignoranz im Umgang mit Untergebenen hielt er nun mal für geboten. Grottkamp nahm es zumeist gelassen. Einem Menschen, der ein so gewichtiges Amt innehatte wie Carl Overberg, musste man wohl zugestehen, dass er dann und wann höchst eigenwillige Entscheidungen traf.
Am Morgen dieses vierten September jedoch hatte Grottkamp sich mächtig über die Selbstgefälligkeit des Herrn Gemeindevorstehers geärgert.
Er hatte ihm die gezeichnete Ortskarte aus Terfurths Rocktasche präsentiert, die er für einen interessanten Fund hielt.
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