Tod an der Ruhr
Doch Overberg hatte nur mit den Schultern gezuckt. So eine Karte zu besitzen, sei doch nicht strafbar, hatte er gemeint. Derzeit berate der Gemeinderat über dringend erforderliche Maßnahmen des Straßenausbaus. Zu diesem Zwecke habe er selbst vor einiger Zeit die Erstellung einer entsprechenden Wegekarte mit mehreren Kopien für einige interessierte Ratsherren veranlasst. Anscheinend sei eine solche Karte als Vorlage für diese doch recht unvollständige und ungenaue Zeichnung benutzt worden. In diesem Falle habe sich allerdings weder der Zeichner noch derjenige, der die Vorlage zur Verfügung gestellt habe, eines Vergehens schuldig gemacht, befand der Gemeindevorsteher.
Darum gehe es ja gar nicht, hatte Grottkamp verärgert entgegnet. Vielmehr stelle sich doch die Frage, warum ein Mann diese Zeichnung bei sich getragen habe, der sich als Einheimischer auch ohne Wegekarte zu orientieren wusste, der überdies mit irgendwelchen Maßnahmen des Straßenbaus in der Gemeinde Sterkrade nicht das Geringste zu tun hatte. Die Klärung dieser Frage scheine ihm von erheblicher Bedeutung zu sein, hatte Grottkamp dem Herrn Vorsteher dargelegt. Immerhin sei der Mann, in dessen Rock sich die Zeichnung befunden habe, eines rätselhaften Todes gestorben.
»Es gehört wirklich nicht zu Ihren dienstlichen Obliegenheiten, sich mit der Herkunft oder dem Zweck schlechter Kopien von Landkarten zu beschäftigen«, hatte Overberg gemault. Grottkamp hatte es vorgezogen, sich seinen Ärger über die Abfuhr nicht anmerken zu lassen.
Im Verlauf des ereignisreichen Tages hatte er kaum noch an das morgendliche Erlebnis im Amtszimmer des Gemeindevorstehers gedacht. Die defekte Zellentür im Pitterkasten hatte ihn zwar noch einmal an den Ärger mit Carl Overberg erinnert, aber wichtig erschien ihm die Angelegenheit längst nicht mehr.
Was ihn weit mehr beschäftigte, als er über den Friedhof schlenderte und die Bank an der Hecke ansteuerte, war das, was er im Hause der Terfurths erlebt hatte.
Bei der Untersuchung des Leichnams hatte es ihn gegraust, und über das Ergebnis hatte er sich keineswegs gefreut.
Hätte der Heildiener Jacob Möllenbeck eindeutige Spuren eines Verbrechens gefunden, dann hätte Overberg die Justiz einschalten müssen, und ihm, Martin Grottkamp, wäre es erspart geblieben, sich weiterhin mit den unappetitlichen Angelegenheiten im Leben der Terfurths beschäftigen zu müssen.
Dass der Hammerschmied sich, wie so viele andere auch, verloren gefühlt hatte in dieser modernen Industriewelt, das rechtfertigte nach Grottkamps fester Überzeugung weder seine Gottlosigkeit, noch seine Trunksucht – und schon gar nicht die Fotografie in seiner Tasche. Auch wenn einem Mann diese Welt nicht gefiel, so war es doch seine verdammte Pflicht, sie aufrecht zu durchschreiten.
Was er heute über das Leben dieses Mannes erfahren hatte, das befremdete Martin Grottkamp. Was er heute im Schlafzimmer der Witwe Terfurth entdeckt hatte, das bedrückte ihn zutiefst.
Er hatte sich auf die Bank in der hinteren Ecke des Friedhofs gesetzt. Seine Kappe hatte er neben sich gelegt und sein Gesicht der Sonne zugewandt. Er schloss die Augen. Es freute ihn, dass das Wetter anders geworden war, als Sankt Ägidius es vorhergesagt hatte.
Über die Bahnhofstraße rumpelte ein Fuhrwerk in Richtung Hüttenstraße. Grottkamp hörte die Rufe des Kutschers und das Knallen der Peitsche. Kinder lachten jenseits der Friedhofshecke. Zwischen den Gräbern zeterte aufgeregt ein Sperling. Von der Gutehoffnungshütte herüber klang dumpf das Schlagen eines Dampfhammers.
Elisabeth hatte die vergangene Nacht nicht allein in ihrem Bett verbracht. Das stand fest. Gerne hätte Martin Grottkamp eine harmlose Erklärung dafür gefunden. Konnte nicht eines der Kinder bei ihr geschlafen haben, damit die Mutter in ihrem Schmerz nicht allein sein musste?
Nun, der Kummer hatte Elisabeth nicht gerade überwältigt. Ihr Gatte war zwar gestern verstorben, aber verloren hatte sie ihn schon vor langer Zeit. Hatte sie nicht selbst gesagt, dass sie es gewohnt war, ohne ihren Ehemann einzuschlafen? Nein, dass Elisabeth den Trost ihrer Kinder gebraucht hatte, konnte Grottkamp sich nicht vorstellen.
Und die Kinder? Die schliefen ohnehin beieinander und konnten sich gegenseitig trösten – wenn sie überhaupt des Trostes bedurften. Der Verlust dieses Trunkenboldes, für den sie nur hungrige Mäuler waren, die er zu stopfen hatte, konnte die Kinder nach Grottkamps Ansicht nicht allzu
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