Tod an der Ruhr
schien der Mann immerhin zu haben bei den Sterkrader Frauen. Wenn er nicht gut verkaufen würde, wäre er sicher nicht jede Woche hier.
Dann entdeckte Grottkamp die alte Anna. Sie hockte unweit der Marktschänke auf einem wackligen Melkschemel und hatte auf zwei Leinentüchern ihre Kräuter ausgebreitet. Er kannte Johanna Spieker, die Ziehmutter der Herumtreiberin Margarete Sander, nicht erst seit jenem Dezembertag des Jahres 1861, als er das kranke Mädchen bei ihr gefunden hatte.
Als er noch ein Knabe war und mit seinen Freunden die Wälder im Alsbachtal durchstreifte, waren die Jungen gelegentlich auf die Kräuter suchende Alte getroffen. Damals hatten sie geglaubt, die Kräuterfrau könne sie verhexen, und waren ihr ängstlich aus dem Weg gegangen.
»Ah, der Martin vom Grottkamphof. Ein stattlicher Polizeimann ist er geworden, ein wirklich stattlicher.«
Martin Grottkamp lachte. »Das sagst du jedes Mal, wenn ich dich treffe, Anna Spieker. Aber was soll’s, ich höre es ja nicht ungern.«
Die Alte hatte ihr schwarzes Tuch tief in die Stirn gezogen. Aus zusammengekniffenen Augen betrachtete sie Grottkamp aufmerksam.
»Wenn ich’s richtig sehe, dann nagt aber auch am Herrn Polizeisergeanten schon der Zahn der Zeit«, stellte sie bissig fest. »Wie wäre es denn mit einem Kräutchen für die Manneskraft?«
»Kein Bedarf.«
»Vielleicht lieber etwas gegen die Cholera?«
»Soweit ich weiß, ist dagegen noch kein Kraut gewachsen.«
Die Alte nickte. »Alle wissen das. Aber trotzdem fragen alle danach. Jeder will von mir ein Mittelchen gegen die Seuche.«
»Und du verkaufst es den Leuten, nehme ich an.«
Johanna Spieker hatte ihre Ellenbogen auf die Schenkel gelegt und hockte vornüber gebeugt zwischen ihren Kräutern. Ohne zu Grottkamp aufzusehen, sagte sie: »Wenn Sie meinen, dass ich die Menschen betrüge, dann irren Sie, Herr Sergeant. Ich verkaufe ihnen getrocknete Brombeerblätter. Ein Tee davon ist gegen Durchfall das Beste, was es gibt. Kamille hilft auch immer, wenn es im Leib zwickt. Und da, das Johanniskraut, das ist ein wunderbares Mittel gegen allerlei Beschwerden, auch gegen solche des Magens und des Darms. Das sage ich den Leuten. Und wenn sie glauben, die Kräuter würden sie vor der Cholera schützen, dann red ich’s ihnen nicht aus. Was wirklich gegen diese verfluchte Krankheit hilft, das weiß ich genauso wenig wie die Herren Doktores.«
»Ist schon recht, Johanna Spieker«, sagte Martin Grottkamp versöhnlich. »Und was ist das da für ein Zeug?«
Die alte Anna grinste. »Der junge Herr Grottkamp weiß nicht, wie getrocknete Schafgarbe aussieht. Das wundert mich. Ein feines Kräutchen gegen zu heftiges Monatsbluten. Wenn der Herr Sergeant Bedarf haben?«
Jetzt reichte es Grottkamp. »Grüßen Sie die Margarete«, sagte er kurz angebunden und schlenderte zur Marktschänke hinüber, vor deren Tür sein Freund Kaspar Ostrogge stand.
Die Aufforderung des Wirtes, auf ein Bier mit in die Schänke zu kommen, wies er freundlich zurück. »Hier, in meiner Zeitungstüte, sind köstliche frische Riesentäuschlinge, und mein Magen knurrt. Nichts für ungut, Kaspar, aber dein Bier muss noch ein Weilchen auf mich warten.«
Dann wollte ihn auch noch der Herr Apotheker von seinem Mittagsmahl abhalten. Der stand mit verschränkten Armen vor seinem Haus auf der gegenüberliegenden Seite der Hüttenstraße und sah kopfschüttelnd dem immer noch regen Treiben auf dem Marktplatz zu.
Er versuchte, den Polizeidiener in ein Gespräch über die seiner Meinung nach äußerst prekäre örtliche Versorgungslage zu verwickeln.
Bei der explosionsartig ansteigenden Zahl der Bevölkerung würden die angebotenen Nahrungsmittel zwangsläufig immer schlechter und teurer, befürchtete der Apotheker. Skrupellose Geschäftemacher würden vermutlich schon bald den absehbaren Versorgungsengpass ausnutzen und die bedürftigen Arbeiterfamilien mit überteuerten Waren in den Ruin treiben.
Um das zu verhindern, müsse in Sterkrade endlich ein Konsumverein gegründet werden, wie der Lehrer Friedrich Lange ihn in Duisburg ins Leben gerufen habe. Nur wenn Waren in großen Mengen günstig eingekauft werden könnten und zum Selbstkostenpreis an die Arbeiter abgegeben würden, wäre langfristig die Versorgung der Bevölkerung mit guten und erschwinglichen Lebensmitteln zu gewährleisten.
Martin Grottkamp verspürte im Augenblick nicht die geringste Lust, mit dem Herrn Apotheker zu diskutieren. Deshalb stimmte er ihm
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