Tod an der Ruhr
einlegen und zur Hälfte der Gesamtgemeinde als Darlehen zur Verfügung stellen, dann bedeutet das für 1867 noch mal einen kräftigen Zuwachs bei den Zinseinnahmen.«
Grottkamp war erstaunt. »Die Gemeinde Sterkrade leiht der Gesamtgemeinde Holten Geld?«
Carl Overbergs Heiterkeit war trotz des dichten Schwadens von Zigarrenrauch, der ihn umhüllte, unübersehbar. »Da haben Sie es, Herr Polizeisergeant! Das ist der Beweis dafür, dass meine Träumereien nicht aus der Luft gegriffen sind. In diesem Jahr haben wir der Bürgermeisterei Holten bereits tausenddreihundert Taler geliehen. Und jüngst ist Bürgermeister Klinge schon wieder an mich herangetreten, weil die Gesamtgemeinde ihre laufenden Ausgaben nicht mehr bestreiten kann.«
Overberg erhob sich aus seinem Sessel und ging ein paar Schritte. Als er die dichten Wolken aus Zigarrenqualm hinter sich gelassen hatte, wandte er sich wieder seinem Polizeidiener zu.
»Unter uns, lieber Grottkamp: Es ist doch ein Witz der Geschichte, dass wir ein Teil der Gesamtgemeinde Holten sind. Sicher, als die Bürgermeisterei vor einem halben Jahrhundert gegründet wurde, da war Sterkrade eine unbedeutende Bauernschaft mit rund sechshundert Seelen. Aber die Welt hat sich verändert. Hier und in Beeck und in Hamborn hat die Zukunft Einzug gehalten. Und sie hat Holten gewissermaßen links liegen gelassen. Was meinen Sie wohl, warum unser Bürgermeister, der wohlgeborene Heinrich Klinge, seinen Amtssitz schon vor sieben Jahren von Holten nach Beeck verlegt hat?«
Grottkamp glaubte nicht, dass Overberg eine Antwort erwartete. Er dachte an die Frage, die sein Bruder gestern auf dem Grottkamphof gestellt hatte und nutzte die Gelegenheit, sie an seinen Vorgesetzten weiterzugeben: »Wie viele Einwohner hat Sterkrade eigentlich derzeit, Herr Vorsteher?«
»Schwer zu sagen. Die Zahlen ändern sich ja beinahe täglich. In der Gemeinde leben zurzeit wohl um die viertausendzweihundert Menschen, vielleicht ein paar mehr. Dreitausendachthundert davon wohnen im Dorf.«
»Beeindruckend«, sagte Martin Grottkamp, und es klang etwa so, als wäre er gerade einer Naturkatastrophe gigantischen Ausmaßes ansichtig geworden.
»Das eigentlich Beeindruckende dabei ist, dass die Bevölkerung allein seit der letzten Volkszählung anno 1861 um tausend angewachsen ist«, befand Overberg.
»Wie beim Goldrausch in Kalifornien«, murmelte Grottkamp.
»Was reden Sie denn da?«
»Ein Mister Banfield aus England, der im Gasthaus ›Zum dicken Klumpen‹ logiert, ist der Meinung, dass es heutzutage an Ruhr und Emscher zugeht wie in Kalifornien zu Zeiten des Goldrausches«, erklärte Grottkamp. »Dieser Engländer hat übrigens zugegeben, dass er Julius Terfurth den Auftrag erteilt hat, ihm eine Ortskarte von Sterkrade zu besorgen. Sie erinnern sich sicher an die Skizze, Herr Vorsteher, die der Tote bei sich trug.«
»Mister Banfield?« Carl Overberg setzte sich wieder in den Sessel. Seine Zigarre war kalt geworden. Er drehte sie nachdenklich zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann zündete er sie an und zog ein paarmal heftig daran. »Eine Karte des Dorfes mit den Hüttengebäuden war das. Natürlich erinnere ich mich. Was will denn ein Engländer damit?«
»Nun ja, er wollte sie als Reiseerinnerung haben. Zumindest hat er das behauptet.«
»Wissen Sie sonst noch was über diesen Mister Banfield?«, fragte Overberg. Grottkamp war überrascht vom plötzlichen Interesse des Gemeindevorstehers, der noch vor ein paar Tagen die Ortskarte in der Tasche des toten Julius Terfurth als völlig belanglos abgetan hatte.
»Nun, er ist sehr elegant gekleidet und recht gebildet, möchte ich meinen. Er gibt vor, ein harmloser Reisender zu sein, der sich an Rhein und Ruhr umsehen will. Wie sehr sich hier alles verändert durch die Industrie, das beeindruckt ihn wohl. Wenn er sich in der Gaststube des Klumpenwirts aufhält, versucht er immer, mit Hüttenarbeitern ins Gespräch zu kommen. Mit dem Terfurth hat er stundenlang diskutiert. Mister Banfield scheint sich für alles zu interessieren, was mit der Gutehoffnungshütte zusammenhängt.«
»Wissen Sie das alles von ihm?«, fragte Overberg skeptisch.
»Das meiste, was diesen Engländer betrifft, habe ich durch Befragungen im Gasthaus ›Zum dicken Klumpen‹ erfahren. Mister Banfield war mir gegenüber eher einsilbig. Ich hatte den Eindruck, dass es für seinen Aufenthalt in Sterkrade noch irgendwelche Gründe geben könnte, über die er nicht sprechen
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