Tod an der Ruhr
dem Haus gesessen und erfahren hatte, dass Sybilla ihn mochte? Hatte er wirklich noch gestern Abend versucht, der Grete Sander schön zu tun? Wie schnell die Dinge sich doch änderten!
Gestern noch hatte er Elisabeth für ein unzüchtiges Weibsstück gehalten. Jetzt wusste er, dass er sich geirrt hatte. Gestern hatte er nicht glauben wollen, dass Grete den Hammerschmied Julius Terfurth mit in ihr Bett genommen hatte. Jetzt wusste er, dass die Schankmagd ein unzüchtiges und sittenloses Weibsbild war.
Wieder drängte sich Sybilla in Martin Grottkamps Gedanken. So gegenwärtig war sie ihm plötzlich, die lächelnde junge Frau mit den weichen Lippen, die Magd in ihrer weißen Bluse, die Tochter des alten Sebastian mit dem langen, blonden Zopf, dass er für eine Weile vergaß, dass er allein in der Dunkelheit auf der Hüttenstraße stand.
Als lautes Gelächter aus der nahen Marktschänke seine Traumbilder vertrieb, dachte er einen Moment lang daran, die paar Schritte über den Marktplatz zu laufen, um in der Schänke nach seinen Freunden zu schauen. Doch dann entschied er sich, an diesem Abend nicht mehr zu Ostrogge hinüber zu gehen und auch nicht mehr zur Schnapsschänke auf der Dorstener Straße.
Er wollte nach Hause, jetzt sofort. Er wollte diese Fotografie aus der Schublade seines Büfetts nehmen, sie ansehen und sich vorstellen, wie es sein könnte, wenn Sybilla seine Frau wäre.
DREIZEHN
So dreist waren die Felddiebe noch nie vorgegangen. Fast die Hälfte ihrer Kartoffelernte hatte die Familie Brandt verloren.
In der Nacht waren sie gekommen, über einen schmalen Wiesenpfad, der hinter dem Grundstück der Brandts am Rande des Tackenbergs entlangführte. Die Diebe hatten die Hecke niedergetreten und sich mit einer Grabgabel auf dem Kartoffelacker zu schaffen gemacht.
Die Spuren, die der Polizeidiener Grottkamp am frühen Morgen des 7. September 1866 auf und neben dem Grundstück der Familie Brandt nahe der oberen Dorstener Straße vorfand, deuteten darauf hin, dass zwei Täter, ein kräftiger Mann und eine noch nicht erwachsene zweite Person, den Felddiebstahl begangen hatten.
Während ein Täter die Kartoffeln ausgegraben hatte, hatte der andere eine Laterne gehalten. Die Überreste einer Wachskerze fand Grottkamp in der Hecke. Er nahm an, dass die Diebe die Kartoffeln auf dem Feld in einem Korb gesammelt und sie dann zu einem auf dem Wiesenpfad bereitstehenden Handkarren getragen hatten. Den vollen Karren hatten die unbekannten Felddiebe am Grundstück der Brandts entlang bis zur Straße gezogen. Dort hatten sie augenscheinlich zunächst den Weg in Richtung Dorfmitte eingeschlagen. Allerdings verlor sich die Spur des Handkarrens schon nach wenigen Ruten zwischen den Fahrrillen, die unzählige Kutschen und Fuhrwerke auf der Dorstener Straße hinterlassen hatten.
Das Gejammer des Hüttenarbeiters Brandt und seiner siebenköpfigen Familie klang Grottkamp noch in den Ohren, als er im Bureau des Gemeindevorstehers saß und Carl Overberg Bericht erstattete.
Die Furcht der braven Leute, im bevorstehenden Winter Hunger leiden zu müssen, hatte Martin Grottkamp nicht unberührt gelassen. Alles war aufs Knappste kalkuliert im Haushalt der Familie Brandt. Fleisch kam in ihrer Küche nur an den hohen Festtagen auf den Tisch. Die selbst angebauten Kartoffeln waren während des gesamten Jahres das wichtigste Nahrungsmittel.
Wenn die Täter in Sterkrade wohnten, bestehe die Aussicht, ihrer habhaft zu werden, hatte Grottkamp die Familie Brandt getröstet. Hier kenne zwar inzwischen nicht mehr jeder jeden, aber immerhin wisse doch noch jeder über die Vorgänge in seiner Nachbarschaft Bescheid. Wenn dort urplötzlich jemand über Kartoffeln im Überfluss verfüge, werde dies gewiss nicht verborgen bleiben. Er jedenfalls, hatte Grottkamp versichert, werde im ganzen Dorf nachforschen und die Sterkrader auffordern, ihm verdächtige Wahrnehmungen sofort zu melden.
Dabei war er sich wohl bewusst, dass die Aussicht auf eine Ergreifung der Diebe geringer war, als er es den Brandts in Aussicht gestellt hatte. Vor allem, wenn die Täter sich auf der oberen Dorstener Straße nach links in Richtung Antonyhütte gewandt hatten, wurde es schwierig.
Dann nämlich hatten die Kartoffeldiebe schon nach wenigen Minuten die Rheinprovinz hinter sich gelassen und das Gebiet der Provinz Westfalen betreten.
Seit eh und je gab es diese Grenze zwischen Sterkrade und dem Nachbardorf Osterfeld. Einst trennte sie das Herzogtum Kleve von der
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