Tod an der Ruhr
Kräfte sind, die in Preußen das Sagen haben«, stellte Pfarrer Kreutzberg fest.
Louis Haniel, Generaldirektor der Hüttengewerkschaft und Vorsitzender der Gesellschaft Erholung, stand bei einer Gruppe wichtig dreinschauender Ingenieure, nur ein paar Schritte von Witte und Kreutzberg entfernt. Als er mitbekam, worüber die beiden Pfarrer debattierten, gesellte er sich, mit einem Weinglas in der Hand, zu ihnen.
»Da haben die geistlichen Herren sich doch tatsächlich in die Niederungen der preußischen Politik begeben«, bemerkte er erheitert. »Und ausgerechnet über den Grafen Bismarck höre ich sie schimpfen. Dabei hat der Herr doch alles richtig gemacht und Österreich in die Knie gezwungen.«
»Er hat sich viele Sympathien verscherzt«, befand Kreutzberg. »Mit dem Friedensschluss von Prag hat er den Deutschen Bund aufgelöst und damit die national Gesinnten zutiefst enttäuscht. Dieser neu gebildete Norddeutsche Bund ist doch ein deutlicher Rückschritt auf dem Weg zur nationalen Einheit.«
»Nein, Herr Pfarrer, das sehe ich anders«, sagte Louis Haniel lächelnd. »Der Norddeutsche Bund ist eine Übergangslösung. Die Süddeutschen Staaten werden Preußens Führungsanspruch nach und nach akzeptieren und beitreten. Österreich wird im zukünftigen Deutschland keine Rolle mehr spielen. Genau das hat Bismarck mit dem Krieg bezweckt. Unser König Wilhelm I. wird irgendwann der Kaiser eines Deutschen Reiches sein. Sie werden es sehen, meine Herren.«
Mühsam unterdrückte Dechant Anton Witte ein Gähnen. »Gestatten Sie mir, dass ich mich in die Leseecke zurückziehe«, sagte er höflich, aber entschieden. »Ich bin heute noch nicht dazu gekommen, in der Zeitung zu lesen.«
»Aber sicher, lieber Witte«, entgegnete Pfarrer Kreutzberg jovial.
Louis Haniel hob sein Weinglas und stellte fest: »Ein hervorragendes Tröpfchen übrigens. Ich werde mich dafür verwenden, dass Sie auch unserer nächsten Weinprüfungs-Commission wieder angehören, Herr Dechant.«
Ein Gläschen Wein würde ihm jetzt auch behagen. Anton Witte sah sich nach dem Burschen um, während er zur Leseecke hinüberschlenderte.
»Guten Abend, Herr Dechant, was machen die Pläne für den Kirchenneubau?« Diesmal war es Carl Overberg, der Anton Witte aufhielt. »Nichts Neues, Herr Gemeindevorsteher, leider nichts Neues«, antwortete der Pfarrer.
»Der preußische Fiskus weigert sich immer noch, seinen Anteil von zwei Dritteln der Baukosten zu übernehmen?«
»Die Herren Beamten beharren auf dem Standpunkt, dass Sankt Clemens ursprünglich nicht Pfarrkirche, sondern Kapelle des Klosters Sterkrade war und dass der Staat Preußen sich deshalb nicht an den Baukosten beteiligen müsse.«
»Das hört sich ja gar nicht gut an«, befand Overberg.
Pfarrer Witte nickte. »Ich fürchte, uns steht ein langwieriger Rechtsstreit bevor. Vor Gericht haben wir allerdings ganz gute Aussichten, denke ich. Es ist nämlich eine Urkunde aus dem Jahre 1255 aufgetaucht, in der die Kirche eindeutig als ›ecclesia‹ und eben nicht als ›capella‹ bezeichnet wird. Und diese Urkunde ist immerhin von Conrad von Hochstaden, dem damaligen Erzbischof von Köln, gesiegelt worden.«
»Dann gibt es ja Hoffnung.«
»Nun ja, warten wir’s mal ab.« Anton Witte seufzte und sah sich noch einmal nach dem Burschen um. Er wollte es sich jetzt endlich auf dem Kanapee in der Leseecke behaglich machen, durch die Zeitung blättern und in Ruhe ein Gläschen Wein trinken.
Overberg räusperte sich. »Ich müsste dringend ein paar Worte mit Direktor Haniel reden«, eröffnete er dem Dechanten.
»Oh bitte, lassen Sie sich durch mich nicht aufhalten!«, sagte Anton Witte erleichtert.
»Wissen Sie, ich bin da einer Sache auf die Spur gekommen. Die könnte für die Gutehoffnungshütte von größter Wichtigkeit sein«, raunte Carl Overberg. »Allerdings, wenn der Herr Direktor und der Pfarrer Kreutzberg gerade etwas Vertrauliches zu besprechen haben, dann möchte ich dabei nur ungern stören.«
»Nein, nein. Die beiden politisieren nur ein wenig. Ich denke, dass Sie da durchaus stören dürfen«, beteuerte Witte.
Als er endlich auf dem Kanapee saß, die Zeitung in der Hand hielt und ein Glas Wein vor sich stehen hatte, sah er, dass Kreutzberg sich inzwischen zum Apotheker gesellt hatte und dass Overberg eifrig auf Louis Haniel einredete. Offenbar war es wirklich wichtig, was der Herr Gemeindevorsteher dem Herrn Direktor zu erzählen hatte. Haniel winkte nach einer Weile die Herren
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