Tod an der Ruhr
den schon gelesen, den Witz vom preußischen Offizier im Kölner Dom? In einer der letzten Ausgaben von den ›Fliegenden Blättern‹?«
Anton Witte ergab sich in sein Schicksal. Er ahnte, dass er keine Chance hatte, sich der Humorattacke seines evangelischen Amtsbruders zu entziehen.
»Nein, hab ich nicht gelesen«, gestand er.
»Also«, August Kreutzberg rieb sich die Hände, »ein preußischer Offizier und die Dame aus Berlin, die ihn begleitet, entdecken unter den Schätzen des Kölner Doms eine Maus aus purem Silber. Ein Führer erzählt ihnen, vor einiger Zeit habe eine Mäuseplage im Umland der Domstadt die Ernte der Bauern bedroht. Die hätten daraufhin all ihr Geld zusammengelegt und die silberne Maus als Opfergabe zur Besänftigung des Himmels gestiftet. Als die Dame das hört, amüsiert sie sich köstlich über den Aberglauben der Menschen im Rheinland, und der Offizier fragt den Führer: ›Hören Sie mal, mein Jutester, sind denn die Leute hierum immer noch so dumm, dat se an solche Geschichten jlooben?‹ Darauf der Führer: ›Nein, Herr Offizier. So dumm sind wir nicht mehr. Sonst hätten wir schon lang einen silbernen Preußen geopfert.‹«
Während Pfarrer August Kreutzberg herzhaft über seinen Witz lachte, rang Dechant Anton Witte sich nur ein mattes Lächeln ab.
»Was ist los, lieber Witte? Amüsiert die Geschichte Sie gar nicht?«
»Die haben Sie kürzlich in den ›Fliegenden Blättern‹ gelesen?«, fragte Witte zurück.
»Ja! Genau so, wie ich sie Ihnen erzählt habe«, beteuerte Kreutzberg.
»Also, ich hab die Geschichte schon vor Jahren gehört. Damals wurden allerdings die Bonner von der Mäuseplage heimgesucht. Sie trugen eine silberne Maus als Opfergabe in einer Prozession nach Kevelaer. Dabei wurden sie von einem preußischen Offizier beobachtet, der einen Bürger fragte, ob die Menschen im Rheinland denn tatsächlich noch so dumm seien und so weiter und so weiter. Die Pointe ist dieselbe wie in Ihrer Geschichte.«
Pfarrer Kreutzberg grinste verlegen. Offenbar hatte er sich von den Machern der Zeitschrift »Fliegende Blätter« einen alten Witz unterschieben lassen. »Nun ja«, sagte er achselzuckend, »das Verhältnis zwischen Rheinländern und Preußen ist eben immer wieder gut für einen Scherz.«
»Ich weiß nicht, lieber Kreutzberg. Sollten wir nicht doch allmählich mal damit aufhören, über die Preußen herzuziehen?«
»Jetzt verblüffen Sie mich aber, Herr Kollege. Ihr Katholiken seid es doch, die sich immer wieder darüber grämen, dass ihnen evangelische Altpreußen vor die Nase gesetzt werden. Und, unter uns Herr Dechant, die Forderung des katholischen Bürgertums im Rheinland nach einer paritätischen Stellenbesetzung in Regierung und Verwaltung ist doch auch heute noch absolut berechtigt.«
»Das mag ja sein, Kreutzberg, aber ist sie denn auch noch politisch relevant? Sicher, ein ehemaliger preußischer Offizier leitet die Kommunalverwaltung, ein Beamtensohn aus Potsdam ist der Herr im Landratsamt. Aber was soll’s? Wer entscheidet denn tatsächlich über die Zukunft von Sterkrade oder von Essen und Duisburg? Sind das nicht schon lange die Krupps und die Haniels? Von ihnen hängt es ab, wie die Menschen hier leben. Nicht die preußischen Beamten, sondern die Industriebarone sind doch heute die Herren im Lande.«
»Aber das stimmt ja nicht. Der preußische Beamtenapparat hat das Heft noch längst nicht aus der Hand gegeben. So selbstbewusst das rheinische Bürgertum auch durch seinen wirtschaftlichen Erfolg geworden ist, es wird immer noch verwaltet und regiert vom alten preußischen Adel.«
»Nun gut, der Machtkampf ist nicht ausgestanden«, gab Witte zu. »Aber da stehen doch nicht Rheinländer gegen Preußen, sondern die Protagonisten unserer modernen Welt der Dampfschiffe und Eisenbahnen gegen die Vertreter einer alten, patriarchalischen Ordnung. Das ist der Konflikt, der sich im politischen Gerangel zwischen Liberalen und Konservativen widerspiegelt. König Wilhelm hat längst begriffen, dass ein starkes Preußen von diesen beiden Säulen getragen werden muss. Schließlich ist er der erste preußische Monarch, der neben den Konservativen auch Liberale in die Regierung berufen hat.«
»Weil er wusste, dass sein konservativer Ministerpräsident sie unter die Fuchtel nehmen würde. Nein, nein, wie Bismarck die Heeresreform gegen die liberale Mehrheit im Abgeordnetenhaus durchgeknüppelt hat, das ist doch ein Beleg dafür, dass es immer noch die alten
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