Tod an der Ruhr
Öffnung des Rauchabzuges, sondern breitete sich im Halbdunkel der armseligen Küche aus und ließ Grottkamps Augen brennen.
Ein abgewetzter Tisch mit zwei wackligen Stühlen, eine breite Bank neben der Feuerstelle, eine morsche Truhe unterm einzigen Fenster, ein paar Bretter an den Wänden, vollgestellt mit Töpfen, Tiegeln und Holzkästchen, die offenbar der Aufbewahrung getrockneter Kräuter dienten, das war Johanna Spiekers Küche.
Zuletzt war Grottkamp in diesem Haus gewesen, als er die fünfzehnjährige Margarete gesucht und hier gefunden hatte, im Dezember 1861. Doch in seiner Erinnerung an diesen Wintertag fand er weder die Kälte des Hauses wieder noch dessen Ärmlichkeit. Da sah er nur immer wieder die verwunderten, großen Augen des scheuen Mädchens, das oben in der Dachkammer gelegen hatte.
»Ein weiter Weg ist das von Sterkrade bis zur Johanna Spieker im Wald«, stellte die Alte fest. »Was verschafft mir denn die Ehre, dass der Herr Polizeisergeant ihn auf sich genommen hat?«
»Ich komme nicht aus dem Dorf. Ich war auf dem Grottkamphof. Und von dort ist der Weg nicht allzu weit.«
»Na immerhin«, grummelte die alte Anna. »Ohne Grund wären Sie ihn sicher nicht gegangen.«
Sie beugte sich über die kugeligen, rotweißen Blüten, die auf der Bank neben der Feuerstelle ausgebreitet lagen. »Katzenpfötchen«, krächzte sie. »Kennen Sie die? Man nennt sie auch Strohblumen oder Ruhrkraut.«
Grottkamp nickte nur, obwohl Johanna Spieker ihm den Rücken zugewendet hatte. »Ein Tee davon hilft, wenn die Galle zwickt oder die Leber«, erklärte die Alte, während sie mit beiden Händen die Blüten zusammenschob. »Da kann er sich setzen, der Herr Grottkamp«, murmelte sie, schlurfte zum Tisch hinüber und ließ sich ächzend auf einem der beiden Stühle nieder.
»Ein stattlicher Offiziant ist er geworden, der Jüngste vom Grottkamphof«, stellte sie fest.
Martin Grottkamp lachte.
Weit mehr als achtzig Jahre dürfte die Anna inzwischen auf dem Buckel haben, überlegte er. Schon vor mehr als drei Jahrzehnten war sie für ihn und die anderen Knaben, die im Alsbachtal Kaulquappen gefangen und Frösche aufgeblasen hatten, die alte Anna gewesen. Schon damals hatte sie sich vom Kopftuch bis hinab zum Rocksaum stets in schwarze Kleider gehüllt, und schon damals war sie vornüber geneigt herumgeschlurft, wenn es auch vor dreißig Jahren wohl noch nicht das Alter gewesen war, das sie gebeugt hatte, sondern ihre stete Suche nach diesem oder jenem Kraut. Das verrunzelte Gesicht, das konnte sie damals noch nicht gehabt haben, aber den durchdringenden Blick, mit dem sie gerade jetzt den Polizeidiener musterte, den hatte Grottkamp schon als Knabe gefürchtet.
Hier, zwischen Wurzeln, Blüten und Blättern, die auf Tisch und Truhe lagen, zwischen Kräutersträußen, die an Balken und Wandbrettern hingen, hier im Halbdunkel der heruntergekommenen Küche, erinnerte er sich wieder daran, wie unheimlich ihm als Kind der stechende Blick des Kräuterweibs gewesen war. Wenn er im Wald der alten Anna begegnet war, war es dieser Blick gewesen, vor dem er davongelaufen war, bevor er ihn treffen konnte, bevor er in sein tiefstes Inneres dringen und ihn verhexen konnte.
Heute hielt Martin Grottkamp dem Blick stand, der aus müden, zusammengekniffenen Augen auf ihn gerichtet war. Doch auch jetzt beschlich ihn das unbehagliche Gefühl, die alte Anna schaue durch seinen Uniformrock hindurch.
»Er ist wegen der Grete gekommen, nicht wahr?«, krächzte die Alte.
»Ich dachte, sie wär vielleicht hier«, entgegnete Grottkamp.
»Nein, sie ist noch gestern Abend zurück ins Gasthaus gegangen. Dort gibt’s jetzt viel Arbeit, wo der Küppken nicht mehr ist.«
Grottkamp hatte sich auf die Bank neben der Feuerstelle gesetzt, und da der Rauch zur anderen Seite wegzog, nahm er hier zum ersten Mal den intensiven Geruch wahr, den Heidelbeeren, Beifuß, Goldrute, Fenchelknollen, Baldrianwurzeln, Wachholder und Katzenpfötchen verströmten.
»Gut riecht es in deiner Kräuterküche«, sagte er.
»Den Duft der Kräuter, den hat die Grete auch immer gemocht, schon als kleines Mädchen«, entgegnete die alte Anna, und Grottkamp entdeckte ein sanftes Lächeln in ihrem runzligen Gesicht. »Dass wir nicht arm wären, wo es bei uns doch riechen würde wie in einem Königsschloss, hat sie damals gesagt. Wie sollte sie es auch besser wissen, die Kleine? Eine solche Armut hatte sie erlebt, dass es ihr hier schon war, als wären wir reiche
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