Tod Auf Dem Jakobsweg
gegen ein imaginäres oder reales Kraftfeld Stemmen, «wie in Lourdes. Da ist es jetzt natürlich nicht mehr einsam. Nettes Örtchen, eigentlich, nur halb so groß wie Aurich, hat aber fast so viel Hotels wie Paris. Die heilige Bernadette ist der Jungfrau María vor hundertfünfzig Jahren auch bei einer einsamen Grotte begegnet. Und über die haben sie auch eine Kirche gebaut.»
«Und drum herum noch mal zwanzig», fügte Jakob hinzu, «das Geschäft läuft dort hervorragend. Ob die Kraftorte nun existieren oder nicht, man sagt das neben vielen anderen auch von der Pfalzkapelle Karls des Großen in Aachen, wir werden noch andere einsam stehende Klöster und auch Kirchen sehen. Manche waren einem oder einer Heiligen geweiht, die heute niemand mehr kennt oder die vom Vatikan wieder von der Heiligenliste gestrichen worden sind. Was übrigens der Verehrung mancher dieser entheiligten Heiligen keinen Abbruch tut, zumindest den regionalen.»
Einige dieser Kirchen und auch Klöster seien verfallen oder ganz verschwunden, zum Beispiel durch Kriegsverheerungen oder weil die nahen Dörfer verlassen wurden. Bei dieser sei es anders.
«Ihr seht ja, wie sorgfältig sie restauriert ist. Für mein Empfinden ein bisschen zu gründlich. Die Arkadenreihe sieht neu erbaut aus. Man weiß tatsächlich wenig Verlässliches über ihre Ursprünge, überhaupt über ihre Geschichte. Dafür gibt es wie ständig am Camino etliche Legenden, zum Beispiel, dass diese wie andere den Templern zugeschriebene Kirchen in ihrem oktogonalen Grundriss der nicht mehr erhaltenen Gralskirche in Jerusalem nachgebaut ist oder dem Felsendom. Tut mir leid, Eva, da bist du auf eine Legende hereingefallen. Die Templer — falls sie die Bauherren waren, was gut möglich ist — wollten mit dem achteckigen Grundriss wohl eher an die Aachener Pfalzkapelle erinnern, diese war nämlich ihr Vorbild. Natürlich kann man auch darüber streiten. Selbst seriöse Wissenschaftler können häufig nur mutmaßen. Die Form dieses Kuppelgewölbes lässt auf Vorbilder aus dem Heiligen Land schließen, was einen Zusammenhang mit den Templern nahelegt. Nun lasst uns hineingehen, wir können das nachher im Bus weiterdiskutieren, oder beim Picknick.»
Als wolle der Himmel Jakob unterstützen, schob sich eine dunkle Wolke vor die Sonne, die ersten Regentropfen scheuchten die Gruppe durch die eiserne Pforte in der Arkadengang und Gotteshaus umgebenden Mauer und in die Kapelle. Leo blieb vor dem uralten Bauschmuck des wulstigen Portalbogens stehen. Die Kunst der frühmittelalterlichen Steinmetze, diese Fratzen, die das Böse abwehren sollten, die Heiligenfiguren, mythischen Tiergestalten, Widderhörner, Ranken und Rosetten, diese in aller Schlichtheit so eindringlichen Bilder, bewunderte sie schon lange. Vielleicht gab es sie doch, die geheimnisvolle Kraft des Ortes? Der Gedanke gefiel ihr. Zu ihrer eigenen Überraschung sogar ausnehmend gut.
Drei Männer traten aus der Kapelle. Während sie grußlos an ihr vorbeigingen, schob der älteste einen Rosenkranz in seine Jackentasche. Die Ähnlichkeit ihrer kantig-strengen Gesichter ließ in ihnen Großvater, Vater und Sohn vermuten, ihre Kleidung war derb, sie sahen weniger nach touristischen Pilgern als nach navarresischen Bauern aus. Die Bergstiefel des Jüngsten allerdings waren neu und teuer. Bevor Leo die Kirche betrat, drehte sie sich noch einmal nach ihnen um und sah die drei zu einem schlammbespritzten, verbeulten Pick-up gehen, der etwa fünfzig Meter entfernt unter einer Esche stand. Keine Mönche hatten so wunderbar gesungen, sondern Männer aus einem der umliegenden Dörfer. Bei ihrem Auto angekommen, griff der Jüngste durch das offene Fenster, zog ein Fernglas heraus und hielt es auf die Kirche gerichtet an die Augen. Plötzlich fühlte Leo sich als Störenfried, als schnöde Touristin, die in Santa María de Eunate nicht den geweihten Ort, das Gotteshaus suchte, sondern nur eine von vielen am Weg liegenden Sehenswürdigkeiten. Sie fühlte sich als genau das, was sie war. Für tiefgläubige Menschen mochte das einem Sakrileg sehr nahekommen.
Die Sonne hatte sich als stärker erwiesen und mit der Hilfe des unermüdlichen Windes gewonnen. Am wieder blitzblauen Himmel schwebten Wolken wie dicke Sahnehauben, und über dem Land lag der Duft frühsommerlicher Felder und Wiesen, in den Gärten selbst der bescheidensten Häuschen blühten üppig die Rosen, weiß und in allen Gelb-, Rot- und Rosatönen, die die Palette der Natur
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