Tod Auf Dem Jakobsweg
du sicher? Vielleicht kenne ich ihn aus früherer Zeit und hatte eine alte Rechnung mit ihm offen. Die er inzwischen nur vergessen hat, wie auch mich. So was kommt vor. Du meine Güte, Hedda, starr mich nicht so entgeistert an, es ist nur ein Gedankenspiel. Ich habe Benedikt erst auf dem Flug nach Bilbao kennengelernt.»
«Klar. Nur ein Gedankenspiel.» Hedda lachte, es klang entschuldigend. «Für einen Moment habe ich es fast geglaubt. Du spielst ziemlich überzeugend mit Gedanken.»
Leo nickte vage. «Phantasie ist schön», sagte sie, «kann aber auch lästig werden.»
Der Bus rollte weiter die Hügel hinab in das weite Tal und hielt schließlich zwischen Wiesen und schmalen, von klatschmohnroten Rainen gesäumten Getreidefeldern vor der Kirche Santa María de Eunate. Der Wind bewies auch hier seine Energie und zauberte tanzende Wellen auf das grüne Meer der Felder. Am Himmel zerwirbelte das geschlossene Grau der Wolkendecke zu aufgeplusterten, weißen und blaugrauen Haufen, schaffte Spalten und Löcher für die Strahlen der Sonne, damit sie dem bescheidenen Gotteshaus Glanz verliehen.
Der achteckige Sandsteinbau mit seiner fünfeckig angebauten Apsis, dem stummeligen Seitentürmchen und dem schlichten Dachreiter mit den beiden frei hängenden kleinen Glocken mochte nur Kapelle genannt werden, aber einsam in der herben Landschaft stehend, hatte er einen ganz eigenen Reiz. Im Abstand von einigen Schritten umrundete eine Arkadenreihe das Oktogon, als brauche es Schutz gegen den Wind oder einen besonders würdigen Rahmen. Wozu sonst sollten die Rundbogen dienen? Sie waren nicht überdacht wie bei manchen anderen Kirchen, die Pilgern damit ein geschütztes Lager für die Nacht geboten hatten. Eva plädierte für einen magischen Kreis.
Leo hörte nur mit halbem Ohr zu, als Jakob seiner Reiseleiter-Pflicht nachkam und von der Geschichte der Kirche erzählte. Sie hörte Satzfetzen wie «Ende des 12. Jahrhunderts erbaut», «romanischer Stil mit mozarabischen Anteilen, der von arabischen Traditionen beeinflussten christlichen Baukunst» oder «statt Fensterglas dünne Scheiben von Alabaster». Denn da waren verlockendere Töne. In den zwitschernden Gesang der über den Feldern tanzenden Lerchen mischte sich ein weiterer, der aus der Kirche kam. Männerstimmen, zwei oder drei?, sangen einen Choral. Die Melodie hatte etwas Weihevolles, gleichwohl klang der Gesang so kraftvoll und — kämpferisch? Ihre Stimmen harmonierten, und die Männer sangen ungemein gut. Ganz und gar nicht schleppend und unsicher, wie sie es aus deutschen Gottesdiensten kannte. Wahrscheinlich waren es Mönche aus einem der nahen Klöster, ausgebildet und geübt in christlichem Chorgesang.
Das Lied endete in einem langgezogenen Ton, und sie hörte Jakobs Stimme wieder deutlich. Diese Kirche sei wohl nie das Zentrum einer Gemeinde gewesen, erklärte er gerade, sondern wahrscheinlich, genau wisse das niemand, Hospiz und Friedhofskapelle für mittelalterliche Pilger. Sie habe schon immer so einsam gestanden, sei aber von sehr vielen Pilgern besucht worden. In alten Gräbern um diese Kapelle habe man Muscheln als Grabbeigaben gefunden, das weise eindeutig auf Jakobspilger hin. Ganz in der Nähe, bei dem alten Städtchen Puente la Reina, träfen die beiden über die Pyrenäen führenden Pilgerrouten zusammen und vereinten sich zur Hauptstrecke nach Santiago de Compostela. Die romanische Brücke Puente la Reina über den Río Arga, der der Ort seinen Namen verdanke, sei die schönste auf dem gesamten Camino. Sie sei im 11. Jahrhundert von einer navarresischen Königin gestiftet worden, es sei nicht ganz sicher, von welcher, um den mittelalterlichen Pilgern den Weg über den Fluss zu erleichtern. Dort habe es damals auch ein großes Pilgerhospiz gegeben.
«Vielleicht war hier, abseits der Dörfer, ein besonderes Hospiz für Pestkranke», überlegte Edith.
«Kann sein. Früher bezeichnete man alle schweren Fiebererkrankungen als Pestilenz. Aber auch sonst», fuhr er fort, «bedeutete das Pilgern wie jede Reise ein lebensgefährliches Unternehmen. Es war üblich, vorher ein Testament zu machen, auch wenn es nur ein Daunenbett oder ein Messer zu vererben galt. Krankheiten, Überanstrengung, Unwetter, Räuber, Straßenhändler mit vermeintlichen, zumeist höchst ungesunden Wundermitteln — das kam alles vor. Sicher gab es viele Männer und Frauen, für die eine Wallfahrt das Abenteuer ihres Lebens bedeutete, waren sie halbwegs wohlhabend, konnte es
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