Tod auf der Donau
Seite her der Donau näherten. Die Wälder am gegenüberliegenden Ufer wirkten erbärmlich, sie waren durch die Nähe zur Raffinerie geschwächt. Dafür standen die mächtigen Stämme auf der Seite von Petržalka dicht aneinandergedrängt. Dahinter strömte der Fluss als Sinnbild des Lebens. Ein sumpfiger Dunst hing in der Waldluft, und der Pflanzenduft war betörend. Über ihren Köpfen wuchsendie grünen Baldachine ineinander, das Gras ragte einem bis zur Taille. Ihre Füße versanken im dichten Trockengrasteppich, mit ihren Händen streiften sie zartes Blattwerk und biegsame Disteln.
Martin erzählte Mona von seinen Abenteuerbüchern, über die Meere und Flüsse darin. Sie sprachen tagelang über Handlungen und Personen, Huckleberry Finn, d’Artagnan, Falkenauge, Tecumseh, Winnetou, Vater Goriot und andere. Sie unterhielten sich über sie, als wären es gute Bekannte, sie bewunderten ihren Mut, bemängelten ihre schlechten Angewohnheiten und erfanden allerlei Fortsetzungen ihrer Abenteuer.
Ab und zu raschelte es im Gebüsch, mal näher, mal ferner, als liefen dort unbekannte Wesen umher, riesenhafte Gestalten oder sich auflösende Schemen. In der Nähe befand sich ein kleiner Steg mit einer Hütte, in der sie sich vor dem Regen verbargen. Über die Wasseroberfläche liefen Moskitos und Wasserflöhe, knapp darüber zogen Libellen ihre Bahnen. Wenn Martin ein Stück Brot hinter sich warf, war sofort ein Piepsen hungriger Vogeljungen zu hören.
Die Tage wurden zu Wochen und Monaten. Die Donau strömte von nirgendwo nach nirgendwo. Nächtens lag er mit wachen Augen im Bett und gab sich seinen Träumereien hin.
Sie trafen sich das ganze Jahr über, bis zum nächstfolgenden Sommer. Nach einem harten Winter wurde es wieder warm. Sie kamen sich näher. Er liebte es, Mona im Badeanzug zu sehen. Er selbst stieg verschämt in den Fluss, der endlich von unerträglich kalt auf kühl wechselte. Im Wasser hielt er es nie lange aus, und als er schließlich herauskam, legte er sich zu ihr in den Sand und mühte sich vorzutäuschen, nicht zu frieren, doch seine klappernden Zähne und blauen Lippen verrieten ihn.
Eines Abends nahm sie ihn in einen Gang unter der Burg mit, wo Stalins Statue gelagert wurde. Man munkelte, der Tunnel würde unter dem Fluss hindurch bis nach Wien führen. Sie wagten sich ein kurzes Stück vor und kehrten wieder um. Mona nahm ihn mit in die Philharmonie. Vor Aufregung konnte er sich keinen Millimeter rühren.Von der Musik hatte er nicht allzu viel, doch hier neben Mona zu sitzen, das war ein monumentales Ereignis. Sie nahm ihn in gähnend leere Museen und Kunstgalerien mit. Ins Palais Mirbach oder Pálffy wurden sie manchmal von ihren Eltern begleitet. Die alten Frauen hinter der hölzernen Kasse kämpften gegen die Schläfrigkeit an, sie steckten ihre Köpfe in Frauenzeitschriften und vertrieben sich die Zeit mit Stricken. Diese Einsamkeit übertrug sich auch auf die Statuen, die reglos auf etwas zu warten schienen, ohne genau zu wissen, worauf.
Martin nahm Mona dafür in den Hafen mit, wo sein Vater arbeitete. Sie bestaunten gemeinsam die endlos langen Containerkräne und die an Land gezogenen Schiffe. Die Schiffsrümpfe ragten in die Höhe, und ihre Kiele gruben sich wie Messerklingen ins Kieselbett. Die Verlademaschinen erinnerten an gigantische Spinnen. Gleise führten in dunkle Lagerhallen, wo an Werktagen die Arbeiter umherschwirrten.
Lange suchten sie gemeinsam nach einem Schaufelraddampfer, jedoch ohne Erfolg; die hatte man längst entsorgt oder für einen Spottpreis ins Ausland verkauft. Das traurige Ende eines der letzten alten slowakischen Dampfschiffe (der
Orava
) war nahezu symptomatisch. Ende der sechziger Jahre wurde es außer Dienst gestellt, die Aufbauten wurden entfernt und der Rumpf mit Beton ausgegossen, wo er als Hilfspfeiler bei der Errichtung der Neuen Brücke Verwendung fand. Die Reste wurden schließlich in einem der Seitenarme mit Sprengstoff versenkt.
Bei ihren Spaziergängen durch den Hafen ging Martin seinem Vater lieber aus dem Weg, er wollte nicht, dass er Mona traf. Lieber erzählte er von ihm. Am liebsten hatte er es, wenn der Vater beim Reinigen des Gleiskörpers für den Schiffsaufzug am Grund des Hafenbeckens tauchen musste. Dann half er ihm, den Tauchanzug aus gelbem Gummi, der noch vor dem Krieg in Großbritannien gekauft worden war, anzuziehen. Gemeinsam legten sie ihm eine schwere Messingplatte mit Bleigewichten auf die Brust, zogen ihm 25 Kiloschwere
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