Tod auf der Donau
hieß Mona Mannová, war so alt wie er, und auch sie konnte dem Donauwasser endlos zuschauen. Sie wirkte wie eine Wassernixe, die sich plötzlich an Land wiedergefunden hatte. Am Hals spielten Muskelstränge unter ihrer Haut, und dazwischen war eine kleine Vertiefung. Er sehnte sich danach, diese Stelle mit seinen Fingern berühren zu dürfen.
Kein anderes Mädchen hatte einen so westlich klingenden Namen, in Martins Klasse gab es nur Katerinas, Zuzanas und Hanas. Seine Mitschülerinnen waren allesamt groß und dürr, mit überlangen Armen und Beinen, trugen wunderliche, viel zu große Unterhosen und rochen nach Armut. Mona war ganz anders angezogen. Und sie wollte sogar mit ihm sprechen.
»Hast du einen Bruder oder eine Schwester?«, fragte er sie.
»Nein. Und du?«
»Auch nicht. Zum Glück«, entgegnete er. »Wo wohnst du?«
»Nicht weit von hier. Ich zeige es dir.«
Am linken Flussufer kannte er sich kaum aus. Dafür war Mona hier in ihrem Element. Die Altstadt war kaum bewohnt, nur wenige Besucher verirrten sich hierher. Martin betrachtete die Fassaden, Arkaden, die Satteldächer und das Menschengewimmel. Als er sich umdrehte, sah er in der Ferne zwischen den Baumkronen die Hochhäuser der Petržalka-Siedlung, die ihn daran erinnerten, woher er stammte.
Daheim stellte Mona ihn ihren Eltern vor. Als Freund. Die Vierzimmerwohnung in einer Seitengasse nahe der juristischen Fakultät beeindruckte Martin. Bis zu diesem Tag hatte ihn noch nie ein Freund oder Mitschüler mit nach Hause genommen, geschweige denn ein Mädchen. Während Mona und ihre Mutter in der Küche beschäftigt waren, bestaunte er die vielen Bücher. Selbst im Kinderzimmer hatte Mona Hunderte Bücher und Comichefte. Die Wände waren mit Urkunden für ausgezeichnete schulische Leistungen und Erfolgen in allen denkbaren Fächern bestückt. Verstohlen berührte er die Musikanlage, den Videorekorder und das Dampfbügeleisen – alles Dinge, die er ausschließlich von den Auslagen des Luxusgeschäftes Tuzex kannte, wo man mit harter Währung bezahlen musste. Als man ihm einen Platz auf dem Sofa anbot, aß er einen Pudding und trank seine Limonade und benahm sich so, wie sich wohl auch Erwachsene benehmen würden.
Von diesem Tag an traf er Mona oft nach der Schule, und als schließlich die Ferien kamen, verbrachten sie beinahe jeden Tag gemeinsam.
Martin holte Mona auf dem Rummelplatz ab, der sich in der Nähe des Starý most befand. Zwischen den dürren Bäumchen leuchteten die Attraktionen hervor, die Schießplätze knarrten, das Karussell quietschte. Kabel waren kreuz und quer gespannt, daran hingen Lampions. Die Wirtin einer der Kioske hatte einen Oberlippenbart und goldig funkelnde Zähne. Hinter dem Pult saß ein hübsches Mädchenmit einer weißen Haube auf dem Kopf, sie schnitt mit einer Schere Papierrosen aus, die waren fast so groß wie Kohlköpfe. Martin schoss Mona einen Lolli, und sie revanchierte sich mit einem Kuss auf die Wangen. Im Vorführwagen zog ein Magier eine lebende und nach Heizöl riechende Taube aus einem schwarzen Zylinder und schluckte ein Schwert. Mona war erbost, sie war sich sicher, dass er geschwindelt hatte, doch Martin glaubte tatsächlich, dass er sich das Schwert in den Rachen geschoben hatte.
Er nahm Mona gern in sein Versteck am Donauufer mit, das sich in der Nähe des Plattenbaues befand, in dem er wohnte. Sie hakte sich mit dem linken kleinen Finger in seinen Gürtel ein, und sie stapften los, einen schmalen Pfad durchs hohe Gras entlang. Sie gingen immer zu Fuß, obwohl man über eine ganze Stunde brauchte. Über alte Kastanienkronen ragte ein ziegelroter Wasserturm mit einem rostigen Kuppeldach. Verlassene Kanuvereinshäuser und leerstehende Pensionen waren von Schlingpflanzen überwuchert. An dieser Stelle hatte Kaiser Friedrich Barbarossa beim dritten Kreuzzug im Sommer 1189 seine Zelte aufgeschlagen. In einer von Grund auf renovierten Halle hat heute eine deutsche Großbank ihren Sitz.
Die Brücke der Roten Armee, auch die »Alte Brücke« genannt – ein ewiges Provisorium und Andenken an die Sowjetarmee –, ließen sie hinter sich. Blieb Mona im Gebüsch hängen oder im weichen Boden stecken, half er ihr sofort. Er nutzte ihre Schwäche aus und umfasste sie an den Hüften. Sie ließ sich bereitwillig führen und hielt ihr Kleidchen hoch. Kein einziges Mal fielen sie hin, sie verloren auch nie den Boden unter ihren Füßen.
Martin zählte zu den wenigen Bürgern von Bratislava, die sich von dieser
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