Tod auf der Donau
und liegen lassen, wäre von Bord gegangen und nie wieder zurückgekehrt. Martin freute sich über jede stupide Frage, über jede Anweisung vom Kapitän, die ihn etwas beschäftige, nur um nicht weiter nachdenken zu müssen. Genauer als an diesem heißen Sommernachmittag hatte er seinen Dienst wohl noch nie verrichtet. Alles war besser, als an Mona zu denken.
Er fuhr auch nicht mit ins slowakische Dorf, um dort Gänsebraten zu essen. Er mochte keinen in altem Schmalz schwimmenden Braten,minderwertigen Birnenschnaps, fettige Gänseleber und sauren Wein, all das obendrein in dieser Hitze. Früher wurde Gänsebraten in den Kleinen Karpaten nur ein paarmal im Jahr gegessen, da war er immer frisch; jetzt konnte man ihn jederzeit bestellen, aus der Tiefkühltruhe und in der Mikrowelle aufgewärmt. Martin freute sich insgeheim, dass dieser Programmpunkt schon seit langem am Schlechtesten abschnitt, obwohl er der Firma gegenüber stets beteuerte, wie leid es ihm täte. Amerikaner essen keine Gänse, sie lieben allerdings Truthahn. Es freute ihn, dass sich nur 21 Reisende für dieses Essen angemeldet hatten. Er setzte sie mit der Reiseführerin in einen Kleinbus und schickte sie los.
Nach dem Mittagessen saß er hinter seinem Pult. Er blätterte im Kalender und machte sich Notizen. Sein Vorhaben wurde immer greifbarer. Nach einer halben Stunde gewann es erste klare Umrisse. Er beschloss, Mona aufzusuchen. Als er den Gang entlangschritt, fühlte er sich müde und zugleich gereizt, unnatürlich wach. Er fand sie in der Wäscherei, hinter dem Bügelbrett. Sie sagte bei seinem Erscheinen kein Wort.
»Wir müssen reden«, erklärte er.
»Worüber? Jetzt habe ich keine Zeit.«
»Das weißt du ganz genau. Keine Ausflüchte. Nimm dir eine Stunde frei, und wir gehen zu unserer Stelle am anderen Donauufer, wir können ein Taxi nehmen.«
»Ich arbeite, siehst du das nicht?«
»Mona, das hier ist nicht wirklich deine Arbeit. Jetzt ist Schluss. Du hast schon etwas anderes gefunden. Ich weiß alles. Wir klären es, und dann verabschieden wir uns. Nimm all deine Sachen mit. Ich warte auf dich.«
Mona sah ihn ungläubig an. Ihr Gesicht verriet, wie gehetzt sie war. Sie blickte nach rechts und dann nach links und lehnte sich schließlich zurück, reif und sinnlich.
»Wir können auch hier. Jetzt gleich!«
Sie lächelte verführerisch, hielt sich an der Waschmaschine festund streckte ihren Hintern vor. Sie lachte ihm ins Gesicht, mit einer Verachtung, die ihm weh tat und ihn zugleich betörte. Plötzlich war ein lautes Gelächter zu hören; es waren Lariana, Madalina, Loredana und Ioana, die Martin nicht hatte sehen können, weil sie sich vor ihm versteckt gehalten hatten. Sie trugen nur Unterwäsche und darüber ein Firmenleibchen, um die Hitze irgendwie auszuhalten. Martin begriff, dass Mona dieses Schiff nicht verlassen würde.
Er konnte jetzt nicht allein sein. Obwohl er frei hatte, mischte er sich unter die Passagiere. Die Kollegen sahen ihn und schüttelten ungläubig die Köpfe. Die Regel lautete: Meide die Passagiere wie der Teufel das Weihwasser, wo du kannst und wann du kannst, immer und überall. Doch Martin fühlte sich wohl in ihrer Gesellschaft.
15. DER LETZTE STÖR
Martin Roy kam in Bratislava zur Welt. Er wusste nicht, wann er die Donau zum ersten Mal gesehen hatte – vielleicht war er nur einige Wochen oder Tage alt gewesen, er hatte seine Mutter nie danach gefragt. Doch sie hatte ihm oft erzählt, dass er, kaum dass er im Kinderwagen sitzen konnte, seine Augen nicht mehr vom Fluss lassen konnte; und wenn er diesen länger nicht sah, hätte sein Gesicht irgendwie alt gewirkt, und die Augen glänzten dann fiebrig. Er wuchs in Petržalka auf, in einem der schlechteren, vielleicht im schlechtesten aller Plattenbauten, die nahe am Ufer standen. Bei Hochwasser wurden die Keller regelmäßig überschwemmt.
Als sich andere Buben für Spielzeugautos, Computerspiele und Fußballklubs begeisterten, ließ sich Martin vom Fluss entführen. Er verschlang lauter Bücher über die Donau und lernte nach und nach die Helden und berühmten Schiffe kennen, von den Römern, Kelten und fränkischen Kaufleuten, die den Strom mit Schiffen voller Schätze befahren hatten, bis hin zu mittelalterlichen Rittern und deutschen Kriegsschiffen und sowjetischen Zerstörern. Donaumatrosen aus Ulm, Regensburg und Wien, Abenteurer und Siedler, Händler und Soldaten, Kreuzritter, Kapitäne, Admirale und Goldsucher, alle fuhren sie den Strom
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