Tod auf der Donau
haben recht, lieber William, verzeihen Sie, ich will mich wenigstens eine Stunde in einem Kaffeehaus mit meiner Freundin treffen und bitte Sie untertänigst, leiten Sie das nicht an die Firma weiter.«
»Ach was, was soll man mit dir schon anfangen, du bist faul und unfähig, das ist unverzeihlich, allerdings, das hier kann ich durchaus verstehen, ich war ja auch mal jung und töricht«, antwortete William herablassend. »Aber mach schnell, dass du ja bald wieder da bist!«
»Ich danke Ihnen, Sie sind zu gütig!«
»Nichts zu danken, gern geschehen, doch ich werde dich noch daran erinnern, wenn ich mal wieder unzufrieden bin. Denk’ mal drüber nach!«
Manche Touristen hinkten absichtlich, um Martin zu quälen und ihm ein schlechtes Gewissen zu machen. Sie wollten, dass er sich für sein körperliches Glück sowie für seinen ungehörigen Vorteil schämte. Oft wetteiferten die Amis während eines Urlaubs in der Kategorie Pflegebedürftigkeit, doch bei der Abreise sprangen sie schließlichaus dem Bus am Flughafen und liefen los, weil sie Martins Mitleid nun nicht mehr benötigten und selbst von ihrer vorgetäuschten Hilflosigkeit die Schnauze voll hatten. Der letzte in der langen Reihe, Arthur Breisky, benahm sich allerdings anders: Er biss die Zähne zusammen und zog wacker die Sauerstoffflasche hinter sich her.
Martin war froh, als er die Passagiere nicht mehr hören konnte und endlich Stille am Kai eingekehrt war. Für drei Stunden hatte er Ruhe von den Touristen. Die Sonne stand schon hoch. Er schlenderte durch die Gassen seiner Kindheit; nur die wenigsten trugen immer noch dieselben Namen wie zu seiner Schulzeit. Die Geschichte überschwemmte die Gassen von Bratislava mit einer Wucht, die nicht nur ihre Seelen, sondern auch deren Namen beanspruchte.
Eine halbe Stunde später war er wieder auf dem Schiff, setzte sich an den Laptop und fing an, seine Liste abzuarbeiten. Er las seine E-Mails und beantwortete die Fragen aus der ADC-Zentrale. Er bestätigte das Budapester Programm, rief bei fünf Reiseführern und zwei Museumsverwaltern an. Nach einer Stunde war er mit seiner Arbeit fertig und beschloss, bei Clark Collis nachzusehen. Er hatte ihn vernachlässigt und zu sehr der Besatzung überlassen.
Collis hatte ihn wohl erwartet. Er war viel besser gelaunt als beim letzten Mal, überaus freundlich, liebenswürdig, und er verfolgte die Bewegungen seines Gastes aufmerksam mit seinen kleinen Augen. Wieder trug er einen dunkelblauen Pyjama, mit einem gestickten Monogramm auf der Brusttasche. Einige Toilettensachen lagen neben ihm auf dem Bett. In einem Glas am Tisch lag ein Ersatzgebiss in einer Desinfektionslösung.
»Ich begrüße Sie, Herr Collis. Fühlen Sie sich exzellent?«
»Danke, lieber Martin. Ja!«, rief Clark. »Ich fühle mich so gut wie schon lange nicht mehr.«
»Das höre ich gern. Hören Sie mir in Ihrer Kajüte immer noch zu?«
»Ich habe dich, muss ich gestehen, etwas vernachlässigt. Nach diesem Erlebnis hatte ich Lust, einfach nur dazuliegen und zu träumen wie in den guten alten Zeiten.«
»Nach welchem Erlebnis, wenn ich fragen darf?«
»Wir sind hier doch unter uns, du weißt schon, was ich meine … Ich hoffe, wir können das bald wiederholen.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, Herr Collis.«
»Die Frau, die du mir geschickt hast – ich danke dir so dafür. Phantastisch, aufmerksam, schön, wirklich hübsch und sexy. Sie war nicht einmal teuer. Im Web habe ich ja schon gelesen, dass es hier in Osteuropa recht billig ist. Wenn du nur wüsstest, welche Preise sie mittlerweile in Amerika verlangen«, seufzte er.
»Von welcher Frau sprechen Sie?«
»Natürlich von Mona … Hey, was ist mit dir los? Hörst du mir überhaupt zu?«
Martin versuchte, den Schreck, der in seine Glieder gefahren war, irgendwie zu verbergen. Halluzinierte er, oder war der Alte wahnsinnig geworden?
»Entschuldigen Sie … ich muss weg«, stotterte er und schlug die Tür hinter sich zu.
Ein solches Verhalten duldete die Firma natürlich nicht. Martin schwankte in seine Kajüte, setzte sich und starrte auf die Donau. Eine Stunde später rief die Rezeptionistin an und meldete die Rückkehr aller Passagiere.
Vor einem Treffen mit seinen Gästen sollte er sich lieber frisch machen, doch es war ihm egal. Er hatte nicht die geringste Lust, mit jemandem zu sprechen. Dieser schreckliche Tag ging aber noch weiter. Er wusste nicht, wohin mit den zitternden Händen.
Am liebsten hätte er alles stehen
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