Tod auf Ormond Hall
bestimmt von ihm geerbt. Meine Mutter war der letzte Spross einer sehr alten Lo ndoner Familie, in der noch Wert auf Tradition gelegt wurde. Sie versuchte vergeblich, mich zur Dame zu erziehen."
"Also haben Sie ihr das Leben schwer gemacht", scherzte K evin.
"Ich muss es leider zugeben." Michelle lachte. "Wie oft drohte sie mir damit, mich nach England ins Internat zu schicken, aber ich wusste genau, dass sie es nicht fertig bringen würde. Sie liebte mich über alles. Als ich noch ein kleines Mädchen war, ließ sie mich kaum aus den Augen." Sie dachte an die halbe Münze, die ihr ihre Mutter an ihrem sechsten Geburtstag gegeben hatte. 'Sie wird dich auf all deinen Wegen behüten und beschützen', hatte sie zu ihr gesagt. Jahrelang hatte sie die halbe Münze an einem Gol dkettchen um den Hals getragen. Erst mit achtzehn hatte sie sie abgelegt und in die Geldbörse gesteckt.
Sie hatten den Párthenon erreicht, einen Mitte des vierten Jah rhunderts errichteten Tempel. Selbst als Ruine wirkte das Bauwerk noch unvergleichlich schön. Trotz seiner Größe strahlte es eine Harmonie aus, die auch Kevin berührte. Er ließ seinen Arm sinken und machte zwei Schritte auf die riesigen Säulen zu, die den Unterbau umgaben.
Michelle folgte ihm. Sie führte ihn durch die Säulenreihen hi ndurch in das Innere des Párthenons. Sie erzählte, dass das dieses wundervolle Bauwerk zu Ehren der Göttin Athena errichtet worden war und sprach von den Fresken, vergoldeten Schilden, der Kassettendecke und den Marmorfußböden, die es früher hier gegeben hatte.
"Es gehört einige Phantasie dazu, sich diesen Tempel in seinem früheren Glanz vorzustellen", sagte sie. "Im Mittelschiff stand eine etwa zwölf Meter hohe Statue der Athena Parthenos. Sie soll ganz mit gehämmerten Goldblech und Elfenbein bedeckt gewesen sein. In den Museen gibt es Kopien von ihr. Man nimmt an, dass die Statue im fünften Jahrhundert nach Konstantinopel verschleppt wurde. Sie ..." Die junge Frau spürte, dass ihr Kevin nicht mehr zuhörte. "Was haben Sie?“, fragte sie. Hier im Inneren des Te mpels war es zu dunkel, als dass sie mehr als die Konturen seines Gesichtes erkennen konnte.
"Was ich habe?“, wiederholte er leise. Zärtlich ließ er die Fi ngerspitzen über ihr Gesicht gleiten. "Ich glaube, ich habe mich in Sie verliebt, Michelle", bekannte er und griff nach ihrer Hand. "Der heutige Tag gehört zu den schönsten meines Lebens, doch ich wusste bereits gestern Abend, dass ich rettungslos verloren bin."
Michelles spürte, wie ihr Herz schnell zu schlagen begann. Sie gestand sich ein, dass sie seit Stunden auf diese Worte gewartet hatte, wenngleich sie sich sagte, dass das alles viel zu schnell ging. Konnte das, was sie für Kevin empfand, wirklich Liebe sein? Nie zuvor hatte sie sich so zu einem Mann hingezogen gefühlt. Mit jeder Faser ihres Herzens sehnte sie sich danach, dass er sie in die Arme nahm und küsste.
"Warum sagst du nichts?“, fragte er und berührte sanft ihre Lippen. "Fühlst du wie ich? Weißt auch du, dass wir wie füreinander geschaffen sind?"
"Wir sollten uns Zeit lassen", flüsterte die junge Frau beno mmen.
"Zeit?" Kevin lachte leise auf. "Übermorgen kehre ich nach England zurück, aber ein Teil von mir wird hier bei dir bleiben." Er zog sie heftig an sich. "Ich liebe dich. Ja ich liebe dich, M ichelle. Ich ..." Impulsiv küsste er sie.
Lass es nicht zu, dachte Michelle. Wehr dich dagegen. Sie wollte sich aus seinen Armen winden, ihr Gesicht zur Seite bi egen, aber sie tat es nicht. Leidenschaftlich schmiegte sie sich an ihn und wünschte sich, dass dieser Abend niemals ein Ende nehmen würde.
3.
Die nächsten drei Monate erlebte Michelle Bryant wie im Trance.
Außerhalb ihrer Arbeit bewegten sich ihre Gedanken und Wünsche fast nur noch um Kevin Ormond. Es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht miteinander telefonierten. Wenn es auch meist nur für einige Minuten war, sie musste seine Stimme hören. Sie war sich sicher, dass er sie genauso liebte wie sie ihn. Wann immer er es einrichten konnte, kam er über das Wochenende nach Athen. Er brachte ihr Fotos von Ormond Hall, Früchte und Bl umen mit. Einmal überraschte er sie mit einem Lesezeichen, das seine Mutter für sie bestickt hatte.
Sie kannten sich auf den Tag genau zwölf Wochen, als Kevin Ormond Michelle fragte, ob sie seine Frau werden wollte. "Ich kann es nicht mehr ertragen, dich über Tausende von Kilometern von mir getrennt zu wissen", sagte er. "Du
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