Tod auf Ormond Hall
und dessen Bedeutung erzählen können. Es gefiel ihr, dass er sich für alles interessierte.
Sie stellten den Wagen in der Nähe des Alten Schlosses ab und gingen zu einem nahe Restaurant, um erst einmal zu Abend zu essen. Michelle genoss jede Sekunde ihres Zusammenseins mit Kevin. Sie war überzeugt, dass sich Nancy irrte. Der junge Mann hatte nichts von einem Großwildjäger an sich. Sie sprachen viel von ihren Eltern und den Ländern, die sie mit ihnen gesehen hatte. Er gestand ihr, wie sehr er es sich als Kind gewünscht hatte, die ganze Welt kennen zu lernen.
"Es war durchaus nicht mein Lebensziel, Agrarwirtschaft zu studieren, um später unseren Besitz zu verwalten", sagte er, als sie nach dem Essen zur Akropolis aufstiegen. "Mein älterer Bruder hätte einmal Ormond Hall mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen übernehmen sollen."
"Was hindert ihn daran?“, fragte Michelle.
"Kommen Sie." Kevin nahm ihre Hand und half ihr über eine etwas schwierige Wegstrecke hinweg. "Was Edward daran hindert?" Er seufzte auf. "Mein Bruder ist vor Jahren von seinem Pferd in eine Schlucht hinuntergestoßen worden. Von diesem Unfall hat er sich nie wieder richtig erholt."
Michelle sah ihren Begleiter fassungslos an. "Wie konnte das g eschehen?"
"Edward war abgestiegen. Er stand am Rand der Schlucht und blickte in die Tiefe. Aus irgendeinem Grund scheute das Pferd. Es bäumte sich auf. Seine Vorderbeine trafen ihn im Rücken. Edward verlor das Gleichgewicht und ... Es war furchtbar. Ich stand nur wenige Meter entfernt, als es passierte. Noch heute sehe ich manchmal in Alpträumen meinen Bruder stü rzen."
Michelles Taktgefühl ließ es nicht zu, sich danach zu erkund igen, welche Folgen dieser Sturz für Edward Ormond gehabt hatte. Sie machte Kevin auf zwei Verteidigungstürme aufmerksam, dann traten sie durch das Beuletor und stiegen die zerstörte Marmortreppe zu den Propyläen hinauf.
"Ich habe auch noch einen jüngeren Bruder. Thomas ist vor wenigen Wochen vierzehn geworden", fuhr der junge Mann fort. "Er wurde vier Jahre nach Edwards Unfall geboren. Meine Eltern ha tten sich ein Mädchen gewünscht. Es sollte nicht sein."
"Erzählen Sie mir von Ihren Eltern", bat Michelle.
"Da gibt es nicht viel zu erzählen", meinte Kevin. Er legte den Arm um sie. "Sie sollten uns, wenn Sie wieder in England sind, besuchen", schlug er vor. "Sie würden von Ormond Hall begeistert sein." Er führte die junge Frau zu einer halbhohen Mauer, von der aus sie auf das erleuchtete Athen hinunterblicken konnten. "Ormond Hall liegt in den walisischen Bergen", fügte er hinzu. "Als Kind bin ich stundenlang durch die Umgebung gestreift. Jeder Baum, jeder Stein sind mir vertraut. Es ..." Er lachte auf. "Ist es nicht irrsinnig, auf der Akropolis von England zu sprechen?"
Michelle hob den Kopf. Hoch über ihnen stand der Mond. Sein Licht tauchte die Ruinen der Tempel und Heiligen Stätten in flü ssiges Silber. Ein geheimnisvolles Raunen schien von den verwitterten Mauern auszugehen und unwillkürlich musste sie an die Menschen denken, die sich früher hier versammelt hatten. Fast glaubte sie ihre Stimmen zu hören.
"Sie scheinen auch den Zauber zu spüren, der über allem liegt", meinte Kevin. "Ich komme mir wie in einer anderen Welt vor. Obwohl wir die Lichter der Stadt sehen können, erscheint sie mir unendlich fern.
"Es ist, als würden wir durch die Vergangenheit wandern", gab Michelle zu. "Ich besuche gerne am Abend die Akropolis. Tagsüber kann sie mir nur wenig geben. Da stolpert man auf Schritt und Tritt über Touristen. Wir ..." Sie sah ihn vergnügt an. "Im Grunde sind wir auch nichts anderes als Touristen."
Er schüttelte den Kopf. "Irrtum, Touristen sind immer nur die anderen", behauptete er amüsiert.
Michelle dachte über seine Worte nach. "Stimmt", gab sie zu.
Aneinandergeschmiegt gingen sie weiter. Michelle sprach von der Geschichte Athens. Sie erzählte, wie sie mit ihrem Vater oft stundenlang durch die antiken Stätten Griechenlands gewandert war und wie er versucht hatte, ihre Augen auch für die kleinen Dinge zu schulen, die von anderen leicht übe rsehen wurden.
"Sie müssen ihn sehr geliebt haben", bemerkte K evin.
"Ja, ich habe meinen Vater sehr geliebt", gab die junge Frau zu und spürte wieder die Trauer, die sie nach dem Tod ihrer Eltern empfunden hatte. "Aber ich habe auch meine Mutter geliebt, wenn auch auf andere Art. Mit meinem Vater konnte man sozusagen Pferde stehlen. Die Abenteuerlust habe ich
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