Tod den Unsterblichen
er dachte angestrengt nach. Er wollte Locille nicht vertreiben!
Aber er wollte sich auch nicht umbringen, was er jedoch zweifellos immer wieder versuchte. Es war alles Teil eines Schemas, das Ergebnis stand außer Zweifel. Er versuchte, sich in jeder Hinsicht selbst zu zerstören. Nachdem er es nicht fertiggebracht hatte, sein Leben zu beenden, versuchte jener Zerstörer in ihm, den Teil seines Lebens zu beenden, der ihm auf einmal am meisten bedeutete, seine Liebe zu Locille. Aber im Grunde lief es auf dasselbe hinaus, dachte er, denn wenn Locille nicht mehr da war, Carl tot, Egerd abgegangen, hätte er niemanden mehr in seiner Nähe, der ihm helfen konnte, die gefährlichen Augenblicke zwischen Wachsein und Schlaf zu überstehen, die alle vierundzwanzig Stunden mindestens zweimal eintraten.
Er würde keinen einzigen Tag überleben.
Er sank in seinen Sitz zurück, zum erstenmal mit dem Gefühl der Verzweiflung. Ein Teil seines Verstandes sagte zu Recht: So ein Jammer.
Ein anderer Teil ließ sich, trotz seiner Niedergeschlagenheit, von seiner Umgebung beeindrucken, von der Neuheit, unter so vielen nicht-akademischen Männern und Frauen zu sein. Sie schienen so müde und verdrossen zu sein, dachte er zerstreut, ein oder zwei sahen sogar krank aus. Er fragte sich, ob irgend jemand von ihnen je die Hilflosigkeit empfunden hatte, von dem heimtückischsten Feind, nämlich sich selbst, belagert zu werden.
Aber angenommen, Master Carl hatte recht, sagte Cornut sich ganz unvermittelt.
Der Gedanke überraschte ihn. Er stellte sich ohne Einleitung ein, oder falls ein Gedankengang ihn doch hervorgerufen haben sollte, so hatte Cornut ihn vergessen. Recht? Worin recht?
Der automatische Ansager murmelte den Namen der Station, an der Cornut aussteigen mußte. Er stand auf und dachte: recht?
Er hatte bezweifelt, daß Master Carl tatsächlich versucht hatte, St. Cyr zu töten. Aber der Beweis sprach gegen ihn; das Polizeilabor hatte seine Fingerabdrücke auf der Hellebarde identifiziert, und sie konnten sich nicht irren.
Also angenommen, Carl hatte die Waffe tatsächlich ergriffen, um dem alten Mann den Schädel zu spalten. Einfach unglaublich! Aber wenn er es getan hatte … Und wenn Carl nicht einfach dem Alterswahnsinn verfallen war …
Also dann, sagte sich Cornut, während er am Fuße der Brücke aus dem Aufzug stieg und den vertrauten Campus anblinzelte, also dann hatte er vielleicht einen Grund. Vielleicht verdiente St. Cyr den Tod.
13
Wenn man in das Zimmer trat, war es so, als tauchte man unter die Oberfläche des Meeres. Die Lichter waren blaugrün, verborgen und wurden von blaugrünen Wänden widergespiegelt. Ein Fresko aus feinen blauen und grünen Linien bedeckte eine Wand wie ein Wellenmuster; aus Blumenkästen entlang der Fußleiste erhoben sich die gekrümmten Zweige fahler Pflanzen aus den Zuchtfarmen und erinnerten an den Tang eines Seejungfernwaldes.
Das pelagische Motiv hatte nichts mit Verzierung zu tun, diese Formen und Farben erfreuten und trösteten einfach den Präsidenten St. Cyr. Das war sein Zimmer. Nicht sein Arbeitszimmer mit der Eichentäfelung und dem alten Marmor; nicht einmal sein »privater« Salon, in dem er manchmal Universitätsmitglieder empfing. In dieses Zimmer ließ er nur sehr, sehr wenige ein.
Vier dieser wenigen befanden sich jetzt dort. Ein fetter Mann mit wabbligen Armen drehte sich um und sagte: »Wann?« Er sagte: »Brauchen Sie uns alle?« Er sagte: »Das ist Jillsons Aufgabe.« St. Cyr grinste, und nach kurzer Pause sagte sein Leibwächter: »Nein, meine nicht. Ihnen macht es mehr Spaß als mir.« Eine Frau in einem lächerlich jugendlichen Kleid öffnete ihren schmallippigen Mund und kicherte übermütig, als an die Tür geklopft wurde.
Jillson, der Leibwächter, öffnete sie, und davor stand St. Cyrs hagere, schweigsame Haushälterin mit Master Cornut.
St. Cyr, der in einem türkisfarbenen Sessel saß, hob die Hand. Jillson nahm Master Cornut beim Arm und führte ihn herein, die Tür vor der Nase der Haushälterin schließend. »Ma-ster Cornut«, sagte St. Cyr mit seiner merkwürdig tonlosen Stimme. »Ich ha-be Sie er-war-tet.« Ohne ersichtlichen Grund lachte die alte Frau in dem jugendlichen Kleid schrill; der Leibwächter lächelte; der fette Mann kicherte.
Trotzdem konnte Cornut nicht umhin, sich in diesem Zimmer umzuschauen, das er noch nie betreten hatte. Es war kühl – die Luft wurde ganze sechs Grad tiefer gehalten als die normale
Weitere Kostenlose Bücher