Tod einer Strohpuppe: Kriminalroman
holte die
Unterlagen zu Terry Swilters und Shane Gaffys Tod heraus, lockerte seine Krawatte und las die Akten mit den mitkopierten Eselsohren
Seite für Seite noch einmal durch.
Als er fertig war, saß er da und sah zu, wie ein Mähdrescher vor dem Hintergrund der Foliengewächshäuser in der flimmernden
Hitze auf ein Getreidefeld fuhr und dann einsatzbereit stehen blieb. Diesmal lockerte Fletcher seine Krawatte nicht, er nahm
sie ganz ab.
Es gab eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den beiden Dossiers, die nicht auf den ersten Blick auffiel. Jedem Bericht des
Coroners lag das übliche Verzeichnis der von Amts wegen mit dem Todesfall befassten Personen bei. Traditionell wurden die
Beteiligten nach einer bestimmten Hierarchie aufgelistet. Ganz oben stand der Coroner selbst, ihm folgte der Arzt, der Terry
Swilters Leiche am Unfallort Ulsingham Hall untersucht hatte. In Shane Gaffys Dossier fanden sich an dieser Stelle das ärztliche
Personal der Intensivstation des Addenbrooke’s und der Pathologe, der die Leiche nach dem Tod untersucht hatte. Weiter unten
standen der leitende Polizeibeamte, der mit der Untersuchung betraut gewesen war, der Fotograf, dessen Fotos später zum größten
Teil verschwunden waren, und schließlich die Feuerwehrleute. Ganz unten auf der Seite kam der Name des Polizeibeamten, der
als Erster am Unfallort erschienen war und damit die Verantwortung trug, dass alles bis zur Untersuchung unangetastet blieb.
In beiden Berichten war der Name entfernt worden, so dass dort jeweils rechts unten am Rand ein schwarzes Dreieck klaffte.
Die Seiten hatten keine Eselsohren – nein, die Ecken waren absichtlich abgerissen worden.
Natürlich. Der erste Polizist, der vor Ort gewesen war, hatte nicht gewollt, dass seine Anwesenheit bekannt wurde. Es war
der korrupte Bulle aus Wittris.
Ron Teversham.
In der Blissey Avenue aßen sie in einem Zimmer, dessen großes Fenster auf den Garten hinausging. Das Gras war von Reif überzogen,
die Bäume kahl. Eine Rutsche stand dort und eine Schaukel, deren Schaukelbrett aber am Pfosten festgezurrt war. Der Mond stand
wie ein großer Daumenabdruck am dämmrigen Winterhimmel.
Edmund Hartnell und seine Frau Maria saßen einander an den Kopfenden des Tisches gegenüber. Zwischen ihnen saßen Tom und noch
zwei jüngere Kinder, Brüder. Ein weiterer Platz war gedeckt, doch dort saß niemand.
Maria und die Jungen aßen Suppe, Brot und Schinken aus der Packung. Edmund Hartnell rührte in seinem Suppenteller und seine
Augen wanderten immer wieder über den Tisch zu dem leeren Platz.
Als Tom Fletcher sie zum ersten Mal sah, stand sie in der halb geöffneten Tür. Kupferrotes Haar fiel ihr über die Schultern.
Ihr Wollkleid hatte die gleiche Farbe wie ihre Augen. Sie schlüpfte ins Zimmer, glitt auf ihren Stuhl, warf Tom einen kurzen
Blick zu und sah dann auf den Suppenteller hinunter, den Maria ihr hinstellte.
Edmund beobachtete das Mädchen, wobei er noch immer in der Suppe rührte. Nach einer Weile sagte er: »Cathleen.«
Sie hob den Kopf.
»Cathleen, das hier ist Tom.«
Sie sah Tom wieder an.
Das Dachgeschoss war ausgebaut worden, und dort ging eine Tür nach draußen zur Feuertreppe. Der Schlüssel steckte immer von
innen. Tom Fletcher stand im Dunkeln auf der
Treppe, betrachtete den Mond, der über den Dächern der Nachbarhäuser stand, und spürte den kalten Wind im Gesicht. Er lauschte
auf die Geräusche, die von unten heraufdrangen: Es rauschte in den Rohren und man hörte Wasser schwappen.
Hinter ihm ging die Tür auf und Licht fiel auf die Feuertreppe. Das Mädchen stellte sich neben ihn und ihr Profil zeichnete
sich deutlich vor dem Hintergrund der Dächer ab. Sie trug einen alten Regenmantel, der ihr zu groß war.
»Was ist das für ein Lärm da unten?« , fragte er.
»Das ist Edmund. Er badet gerade.«
»Wie lange bist du schon hier?«
»Ein Jahr« , antwortete sie. Der Wind wehte ihr durchs Haar und zog an den übergroßen Mantelärmeln.
»Ich bin nur für eine Woche hier. Dann geh ich wieder zu meinem Onkel.«
Sie nickte.
»Wie lange bleibst du noch?« , fragte er.
»Ich weiß nicht.«
Sie legte die Hand auf ihren Bauch.
Freitagmittag
Diesmal wartete Iwan nicht.
Er folgte der Uferböschung des Flüsschens, das den Thinbeach Pool speiste. Vor ihm lag eine typische englische Landschaft:
Über Weiden und Felder zogen sich Hochspannungsmasten, in der Ferne verlief eine Landstraße, der Himmel
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