Tod einer Strohpuppe: Kriminalroman
nachgeweint, Fletcher. Willst du jetzt etwa damit anfangen?«
»Ich möchte einfach nur eins wissen. Bei den Akten lagen bloß diese beiden Fotos, sonst keine. Ich möchte wissen, was mit
den anderen Aufnahmen passiert ist.«
Jenks blickte sich in seinem Büro um und betrachtete die Symbole seines Erfolgs: Fotos, die ihn beim Händedruck mitFernsehprominenz zeigten, oder von zweitrangigen Politikern signierte Tischuntersetzer.
»Da kann ich dir nicht helfen, Fletcher. Ich weiß es nicht. Weißt du, was ich nächstes Jahr um diese Zeit mache, wenn alles
gut läuft? Dann hab ich meine eigene Kochserie im Fernsehen.«
Fletcher beugte sich vor und legte die Hand auf Stephens fleischige Brust. »Nicht schlecht. Stephen Jenks, der Fernsehkoch.
Jetzt schau ich ein paar Sekunden aus dem Fenster. Unterdessen denkst du über den Stephen Jenks im Stausee nach, der sich
damals an meine Hand gekrallt hat. Und dann sagst du mir, was du weißt.«
Durchs Fenster konnte man den Himmel sehen, Bäume, in denen sich kein Lufthauch regte, und den glänzenden Lack geparkter Autos.
Als Fletcher den Kopf wieder drehte, starrte Jenks auf die Tischplatte hinunter.
»Ich weiß nicht, wo die Fotos sind, Fletcher. Wie denn auch? Ich war ja nicht dabei.«
»Aber?«
»Es gibt da so eine Art Sammlung, Doomsday Book wird sie genannt.«
»Um Himmels willen. Und was ist das für ein Buch?«
Jenks rückte die weiße Jacke und die Krawatte zurecht, hob aber nicht den Blick. »Ich habe es niemals selbst gesehen, okay?
Aber es gibt dieses Buch.« Er hob den Kopf und sah Fletcher an. »Es gibt Leute, verstehst du, die mögen Bilder von Mord- und
Unfallopfern. Leichen. Das kann man Neugier nennen oder wie auch immer. Heutzutage gibt es Websites mit solchem Zeug. Viele
der Fotos dort werden von Polizisten gemacht. Und damals, in den alten Zeiten, gab es Polizisten, die Schnappschüsse machten
und sie in einem Buch herumgehen ließen. Ich meine, es war wirklich ein Buch, ein großes, ledergebundenes Album. Die Fotos,
die du suchst, könnten vielleicht in diesem Buch gelandet sein.«
»Und wo ist das Buch jetzt?«
»Als ich zum letzten Mal davon hörte, und das ist jetzt schon Jahre her, hat jemand es bei sich aufbewahrt.« Er warf noch
einen Blick auf die Fotos. »Soll ich ihn anrufen?«
»Wer ist es denn?«
»Ich glaube, dass du den Mann kennst.«
»Dann ruf an, Stephen.«
Draußen im Restaurant bereitete sich das Personal auf den mittäglichen Ansturm der Gäste vor. Es war beinahe halb eins, und
der Tod des russischen Ingenieurs war noch immer völlig ungeklärt. Fletcher spürte den Blick aus grauen Augen, der ihm folgte.
Er ließ den Motor an.
Freitagnachmittag
Aus dem Flugzeug beobachtete Sal, wie wieder einmal Wiesen und Felder unter ihr dahinglitten. Anderthalb Stunden Verspätung
beim Abflug und jetzt eine halbe Stunde Kreisen vor der Landeerlaubnis. Die Zeit zerrann ihr zwischen den Fingern. Diesmal
saß kein Verkäufer von Ferienwohnrechten neben ihr, sondern eine portugiesische Nonne, die jedes Mal, wenn das Flugzeug sich
schräg legte, nach ihrem Kruzifix griff.
Die Landschaft da unten konnte aber auch jeden das Fürchten lehren: neongelbe Rapsfelder, dann Äcker in der Farbe geronnenen
Bluts, und dazwischen die Drainagegräben, die rasiermesserscharf in der Sonne blitzten. Willkommen daheim.
Zum letzten Mal kippte die Landschaft in Schieflage, und dann begann endlich der Landeanflug. Der Schatten des Flugzeugs schoss
über die Felder dahin. Sie schloss die Augen. Da war jenes Unbestimmte plötzlich erneut zum Greifen nah: das, was ihr sofort
wieder entfallen war, nachdem es gestern Abend vor der Landung in Lissabon fast in ihr Bewusstsein vorgedrungen wäre. Irgendetwas,
das nicht stimmte. Sie schlug die Augen auf, als das Flugzeug immer schneller nach unten glitt. Sie hörte die Nonne etwas
vor sich hin murmeln, immer wieder denselben Satz.
Da wurde Sal plötzlich etwas klar. Das, was sie suchte, war nicht etwas, was sie gesehen hatte, sondern etwas, was sie
gehört
hatte. Ein Satz, eine bestimmte Wortfolge.
Das Flugzeug setzte rumpelnd auf.
Was war es nur? Und wer hatte es gesagt?
An manchen Sommernachmittagen in Cambridge ist es ganz heiß und still. Es riecht nach gemähtem Gras und man hört nichts als
das Klicken von Kameras.
Fletcher fuhr über die Magdalene Bridge. Im Rinnstein glitzerten noch immer Glasscherben von seiner zertrümmerten Autotür.
Sein Audi war
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