Tod einer Strohpuppe: Kriminalroman
sich.
Fletcher fuhr mit dem Doomsday Book nach Grantchester. Er parkte am Rand einer Wiese und ging zum Fluss hinunter, der sich
dort unter Weidenbäumen vorbeischlängelte. Ein paar Rinder grasten auf den Weiden, und abgesehen von einigen Stakkähnen in
der Ferne war niemand auf dem Fluss. Das Wasser war dunkel und klar.
Er setzte sich auf den Stamm einer umgestürzten Weide und lehnte sich, von den anderen Bäumen beschattet, mit dem Rücken gegen
einen senkrecht stehenden Ast. Vom Fluss herwehte ein leichter Wind, in dem die Blattspitzen zitterten. Er machte die Tüte auf.
Das Doomsday Book war ein richtiger Wälzer. Ein Fotoalbum, in dessen roten Ledereinband das Wort
Erinnerungen
in Kursivschrift eingraviert war. Die Kanten waren vom häufigen Gebrauch angeschmuddelt: Dieses Buch war einst sehr geschätzt
worden. Fletcher schlug es auf.
Die Fotos waren ungeschickt aufgenommene Polaroids. Sie steckten in Folientaschen, die beim Umwenden der Seiten knisterten.
Er sah Männer und Frauen, Selbstmörder, Unfallopfer, einen erstochenen Ladenbesitzer, der zwischen heruntergefallenen Konservendosen
lag, eine Studentin nach einem Säureunfall und einen von einem Stier aufgespießten Farmarbeiter. Die von Hand hingekritzelten
Untertitel der Fotos waren eine Sammlung makabren Humors:
Die Spitze hat gesessen.– Sie fand das wirklich ätzend.
Es ging immer so weiter, bis die Leichen und ihre grausigen Titel zu einem einzigen grotesken Witz verschmolzen.
Die Fotos von Terry Swilter und Shane Gaffy waren anders. Es waren professionelle Aufnahmen mit durchdachtem Blickwinkel und
perfekter Belichtung.
Da war zunächst einmal das schon bekannte Foto von Terry Swilters Leiche hinter Ulsingham Hall, die verschmorten Finger um
die Stromleitung gekrallt. Doch als Fletcher umblätterte, stieß er auf die Bilder, die im Bericht des Coroners gefehlt hatten:
Aufnahmen des Unfallortes, auf denen auch verschiedene Bestattungsleute und das noch zum Warten gezwungene Reparaturteam des
Elektrizitätswerks sowie ein Polizeibeamter mit dem Rücken zur Kamera zu sehen waren. Die meisten Fotos zeigten das Stallgebäude,
von dem Swilter heruntergefallen war. Vom Dach ging es etwa fünf Meter nach unten, was hieß, dass er nach dem Sturz zwar bewegungsunfähig,
aber wahrscheinlich noch bei Bewusstsein gewesen war. Fletcher hielt inne und blätterte eine Seite zurück.
Ein Foto des Stallgebäudes war aus einem hoch gelegenen Fenster des Haupthauses aufgenommen worden und zeigte das Dach, von
dem Terry Swilter gefallen war. Dieses Dach war ziemlich flach und lag vermutlich nach Norden, weil es vom First bis zur Traufe
mit einer dichten Moosschicht bewachsen war. Das Moos wirkte feucht und rutschig. Wer darübergeklettert wäre, hätte unweigerlich
die Moosdecke beschädigt und Fußabdrücke und Narben hinterlassen. Das Moos war jedoch vollkommen unversehrt.
Fletcher nahm das Foto aus seiner Folientasche und betrachtete es genau. Wie auch immer der Junge auf die zur Trafostation
führende Leitung geraten war, vom Dach war er jedenfalls nicht gefallen. Dieser unübersehbare und entscheidende Punkt hätte
in der Beweisaufnahme einen wichtigen Platz einnehmen müssen. Und selbst wenn der Polizeibeamte, der die Untersuchung leitete,
ihn übersehen hatte, hätte der Coroner an dieser Stelle nachhaken müssen.
Er wandte sich wieder dem Foto von Swilters Leiche zu und nahm auch dieses heraus. Es schien dem Foto im offiziellen Bericht
haargenau zu gleichen. Er hielt es ins Sonnenlicht, dann wieder dicht vor seine Augen. Es gab tatsächlich nur einen einzigen
Unterschied, doch der änderte alles. Auf diesem Foto war etwas zu sehen, das auf dem Foto in den Akten gefehlt hatte.
Fletcher blätterte zu den Fotos von Shane Gaffy. Wieder lag das bekannte Foto aus dem Bericht des Coroners bei, und wieder
gab es ein zusätzliches Foto, das den Unfallort aus größerer Entfernung zeigte. Hier sah man, dass der Jaguar in einem trockenen
Drainagekanal abgefackelt worden war, der von allen Seiten mit Weißdorn überwuchert war. Was man auf dem Foto des offiziellen
Berichts nicht hatte erkennen können, war hier unübersehbar: Bei der Explosion des Tanks war das brennende Benzin auf das
Gestrüpp gespritzt und hatte dieses in einen Flammentunnel verwandelt. Nur ein Volltrottel hätteeinen Wagen an einer solchen Stelle in Brand gesteckt – und Gaffy war ein erfahrener Feuerteufel gewesen.
Auf der nächsten
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