Tod einer Strohpuppe: Kriminalroman
wollte die Schreibtischlampe ausschalten, hielt aber noch einmal inne. Sie überflog die Notizen, die sie am Abend bei
dem Telefonat mit Fletcher und Sal Moresby aufs Papier geworfen hatte.
Thinbeach-Hochzeit: 11.00 Uhr, Samstag.
W: Was plant Iwan Gorenski?
F: Das lässt sich unmöglich vorhersagen.
Absagen unmöglich. Falls polizeiliche Absicherung der Veranstaltung, dürfen die Leute nicht zu sehen sein. DI Fletcher fühlt
sich der Herausforderung durch Gorenski allein gewachsen. DS Moresby stimmt ihm zu.
W: Wie wollen Sie mit ihm fertig werden?
F: Wir wissen, wie sein Vater ums Leben gekommen ist. Er nicht. Wir sind im Vorteil.
Waren sie das wirklich? Oder hatte Fletcher es auf eine zweite Tapferkeitsmedaille angelegt?
Eine weitere Seite mit Notizen befasste sich mit der praktischen Seite, den Auflagen, die sie den beiden zum Schutz der Öffentlichkeit
gemacht hatte.
Doch das Wichtigste hatte sie Fletcher zugestanden.
Okay: kein Glockenspiel.
Und dann:
Komplette Übersicht: Ereignisse 78 / 79. Evtl. umfassende Untersuchung. Mehr Leute abstellen? Überprüfung Alain de Minching. Sehr wichtig.
Schließlich legte sie die Notizen weg. Sie streckte die Arme, die sich müde anfühlten. Sie sahen aus wie die Arme einer Fünfunddreißigjährigen,
da war sie sich sicher – aber vielleicht wurde es allmählich Zeit, sich einen Fitnesscoach zuzulegen, jemanden, der zu ihr
nach Hause kam. Ihre Augen waren ebenfalls müde.
Nun lag nur noch ein einziger Gegenstand auf ihrem Schreibtisch: ein brauner Umschlag. Den hatte sie bei der Rückkehr von
dem verdammten Seminar heute in der Büropost gefunden. Der Brief hatte keinen Absender und die Adresse war mit einem Drucker
ausgedruckt. Der Poststempel war vom Vortag, und zwar vom Briefzentrum in Cambridge.
Keine Erklärungen, kein Brief, nichts dergleichen. Nur zwei Fotokopien.
Darüber dachte sie nun schon eine ganze Weile nach.
Es waren Fotokopien eines vertraulichen Berichts, den der Sozialdienst 1991 über eine Pflegefamilie abgegeben hatte. Sie nahm
die Seiten zur Hand und las den letzten Abschnitt noch einmal durch.
18. Februar 1991: Edmund Hartnell fiel von der Feuertreppe im Haus Blissey Avenue 34. Er erlitt zahlreiche Verletzungen, darunter einen Schädelbruch, und starb am 19. Februar im Addenbrooke’s Hospital. In Anbetracht des unsicheren Zustands der Feuertreppe wurde bei der gerichtlichen Untersuchung
auf Tod durch Unfall befunden. Im Lichte dieser Umstände wurde den verschiedenen Vorwürfen gegen die Familie Hartnell nicht
mehr nachgegangen.
Webley hatte noch nie von den Hartnells gehört, und auch die Blissey Avenue war ihr vollkommen unbekannt. Sie schloss den
Brief in ihrem Aktenschrank ein, schaltete die Schreibtischlampe aus und schloss die Bürotür hinter sich zu. Das hatte Zeit
bis morgen.
Thomas Denton erwachte keuchend und schweißgebadet auf einem der Ledersofas in Deep House. Er schüttelte den Kopf und blinzelte.
Dann griff er nach seiner Zigarre, konnte sie aber nicht finden.
Er hatte wieder geträumt, irgendwas von früher. Er hatte geträumt, er sei mit Billy Breakman unten am See und drücke den Kopf
eines Mannes unter Wasser, wobei seine eigenen Hände vor Kälte fast erstarrten. Der Mann war ein riesiger Kerl und wehrte
sich. Einmal, ein einziges Mal, schaffte er es, den Kopf aus dem Wasser zu heben und etwas zu schreien. Die Worte hatten so
klar und deutlich geklungen, dass Thomas sie niemals vergaß, obwohl er sie damals für einen alten Fluch aus den Fens gehalten
hatte, denn da war er noch der Überzeugunggewesen, Dad Legseys Kopf unter Wasser zu drücken.
U menja jest syn
, hatte der sich Wehrende geschrien
.
Später, als ihnen ihr katastrophaler Fehler klar geworden war, hatte Billy Breakman die Worte aufgeschrieben und sich irgendwoher
die Übersetzung besorgt. Danach war Billy nie mehr ganz der Alte gewesen und hatte zu grübeln begonnen. Thomas dagegen hörte
die Worte nur manchmal im Traum, begleitet vom Pfeifen des eisigen Windes, der über den See strich:
Ich habe einen Sohn.
Thomas stand auf. Der Schweiß rieselte ihm den Rücken hinunter. Er fand seine Zigarre kalt im Aschenbecher, daneben ein leeres
Glas. Außerdem lag dort die Geschenkschachtel eines Juweliers: Darin war das Halsband, das er Judith als Friedensangebot schenken
wollte. Sie hatte die Schachtel noch nicht geöffnet.
Dieser Traum. Es war noch etwas anderes darin
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