Tod einer Strohpuppe: Kriminalroman
vorgekommen, aber daran wollte er jetzt nicht denken, nicht heute Nacht.
Er rief nach seiner Tochter. Ihr Name hallte leer durchs Wohnzimmer. Auf dem Weg die Treppe hinauf spiegelte seine Gestalt
sich im blanken Marmor, und auf dem Rückweg ebenso, doch diesmal ballte er immer wieder krampfartig die Fäuste.
Er trat aus dem Haus und stellte sich auf die Zugangsrampe. Die Luft war schwül und beengend, und im Licht über der Tür schwirrten
Motten. Er hörte etwas draußen im alten Fen: ein hämmerndes Motorengeräusch, mal deutlich vernehmbar, mal so leise, dass es
praktisch verschwand.
Er ging auf das Geräusch zu. Am Rande des Schilfufers meinte er einen Hauch von Judiths Parfüm zu erhaschen – und obgleich
er wusste, dass das eigentlich unmöglich war, lief er schneller und schob sich energisch durch den Farn, bis er auf einen
Pfad stolperte. Der Motorenlärm kam von vorn – und dort erblickte er jetzt einen Scheinwerferstrahl, der immer wieder an-
und ausging.
Er rief laut Judiths Namen, ließ ihn weit übers Wasser schallen. Er spürte, dass etwas dicht über ihn hinwegstrich: eine Fledermaus,
die ihr Territorium verteidigte. Im selben Moment wusste er plötzlich, was hier geschah – doch er konnte es einfach nicht
glauben, konnte nicht fassen, dass sie ihm das antun wollte. Er rannte den Pfad entlang – es war einer der alten, erhöhten
Dammwege entlang der Zuflüsse des Thinbeach Pool. Er rannte immer schneller und spürte, wie Zweige ihm die Arme zerkratzten,
doch plötzlich stolperte er über eine Wurzel, fiel der Länge nach hin und beschmierte sich das Gesicht im Moos.
Als er aufstand, leuchtete der Scheinwerfer unmittelbar vor ihm. Das Licht kam von einem Boot, einem Motorboot, das langsam
den Zulauf hinunterfuhr und dabei Binsenbüscheln im Wasser und überhängenden Zweigen auswich. Der Motor tuckerte leise vor
sich hin, von Abgasschleiern umwabert. Der Scheinwerfer ging wieder aus. Laut nach Judith rufend rannte Denton blindlings
auf das Boot zu und stieß und drängte sich durch das Ufergestrüpp, bis er das Heck des Bootes erblickte – Qualmwolken ausstoßend
fuhr es von ihm weg.
»Judith«, schrie er. »Es tut mir leid.«
Er dachte, das Boot führe langsamer, doch es umschiffte nur eine Stelle mit ins Wasser hängendem Gezweig, und dann kam der
Motor wieder auf Touren. Denton rannte am Ufer entlang auf das Boot zu, noch immer nach seiner Tochter rufend. Und plötzlich
fiel ihm der andere Teil seines Traums wieder ein, in dem er noch einmal die Stimme der Polizistin und ihre Frage gehört hatte:
Was wäre denn das Schlimmste, was der Russe Ihnen antun könnte?
Iwan brauchte den Scheinwerfer, wenn die Zweige zu weit ins Fahrwasser ragten. Er hörte noch immer das Rufen und Schreien
des Mannes, doch vor ihnen lag jetzt schon offenesWasser – der dunkle, breiter dahinströmende Fluss. Er blickte sich um und sah, dass Judith, die Hände fest um die Reling geklammert,
übers Heck zurückschaute. Einen Moment lang glaubte er, dass sie vom Boot springen würde. Dann hielt sie sich die Ohren zu,
und er legte den Arm um sie, während er mit der anderen Hand steuerte.
»Hörst du es nicht? Er ruft mich«, sagte sie.
Hinter sich hörte er ein lautes Platschen und sah, dass Denton ins Wasser gesprungen war und dort, noch immer nach Judith
rufend, wild spritzend mit den Armen ruderte. Plötzlich ging der Scheinwerfer an. Judith hatte ihn eingeschaltet und auf das
Wasser hinter dem Boot gerichtet. Iwan blickte sich noch einmal um und sah, dass sie Denton anleuchtete. Ihr Vater versuchte
zu schwimmen und gleichzeitig die Arme nach ihr auszustrecken, die Hände weiß im harten Licht des Scheinwerfers. Sein Kopf
tauchte unter, kam wieder hoch, und er schrie weiter nach seiner Tochter.
Iwan gab Gas, und unter seinen Füßen dröhnte der Motor laut auf, als das Boot auf den Fluss hinausschoss. Er blickte sich
ein letztes Mal um und sah Denton, der vom Kielwasser des Bootes überspült wurde und immer wieder Judiths Namen rief. Erst
als sie den Seitenarm hinter sich gelassen hatten, auf dem sauberen, offenen Fluss waren, verschwand er hinter der Biegung.
Judith schaltete den Scheinwerfer aus. Iwan drosselte den Motor.
Eine Weile schwiegen sie, und es war nur das Tuckern des Motors und das Plätschern der Wellen zu hören, während Iwan sich
die Ereignisse durch den Kopf gehen ließ.
»Judith, ich erzähle dir jetzt von dieser Frau, an die du
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