Tod einer Strohpuppe: Kriminalroman
Lichter noch von einigen emsig arbeitenden Angestellten zeugten.
Fletcher hielt an und wendete. Neben dem See lag ein Parkplatz. Jetzt, am Abend, war er weitgehend leer. Die weißen Markierungsstreifen
der Stellflächen wurden vom Regen gepeitscht. Ganz hinten, unmittelbar vor der Ausfahrt, entdeckte Fletcher einen Omega mit
ausgeschalteten Scheinwerfern. Fletcher bog auf den Parkplatz ein und fuhr auf den Wagen zu. Jetzt konnte er das Nummernschild
erkennen – das Baujahr des Wagens war 03. Er fuhr seitlich an den Wagen heran und warf einen Blick ins Fahrzeuginnere.
Er hatte gerade genug Zeit, um das Profil des Fahrers zu erkennen. Auf dem Beifahrersitz saß ein weiterer Mann. Gleichdarauf raste der Omega über die kurvenreiche Ausfahrt in Richtung Milton Road davon. Fletcher folgte ihm, bis der Wagen ein
stillgelegtes Eisenbahngleis überquerte und in das Straßenlabyrinth des Stadtviertels Arbury einbog. Fletcher hielt an, und
da er kein Airwave-Gerät dabeihatte, rief er per Handy auf der Polizeiwache an, um eine Überprüfung des Fahrzeugs im Polizeicomputer
in Auftrag zu geben.
»Ich rufe Sie gleich zurück, Sir.«
»Nicht nötig. Ich komme selbst vorbei und hole mir das Ergebnis ab.«
Er fragte sich, ob es sich vielleicht auch hier um ein Missverständnis handelte – ob der Omega womöglich nur irgendein gestohlenes
Fahrzeug war, dessen Fahrer leicht nervös wurde. Denn in diesem Wagen hatten weder Iwan noch Berlitz gesessen, das hatte er
genau gesehen. Vielmehr zwei Männer mit harten, englisch wirkenden Gesichtszügen und kurz geschnittenem Haar. Er schätzte
ihr Alter auf etwa fünfzig.
Detective Superintendent Webley beobachtete Tom Fletcher beim Lesen der Aktennotiz aus dem Innenministerium. Es war zehn Uhr
abends, doch sein Anzug wirkte immer noch wie frisch gebügelt und die Krawatte saß korrekt und gerade unter dem Hemdkragen.
Sie sah, wie er den Vermerk stirnrunzelnd ein zweites Mal las. Sal Moresby, die neben ihm am Konferenztisch saß, blickte genauso
unzufrieden drein. Sie hatte die Lektüre schon hinter sich.
Fletcher reichte Webley das Blatt über den Tisch zurück und sah erst Sal und dann seine Vorgesetzte an. Seine blauen Augen
blitzten auf.
»Man hat eine Leiche verschwinden lassen«, sagte er.
»Es sieht so aus.«
Der Aktenvermerk war kurz, aber sorgfältig formuliert. Dort stand, dass die Leiche eines russischen Staatsangehörigen aufgrund
einer Ermessensentscheidung in einem Härtefallim Januar 1979 in die Sowjetunion überführt worden sei. Es fehlte jeder Hinweis auf die Todesursache oder die Einäscherung,
und ebenso wenig wurde erwähnt, dass die Zeugen vor Ort zur Verschwiegenheit verpflichtet worden waren. Von einem Gegenstand,
der bei dem Toten gefunden worden sei, war ebenfalls nicht die Rede.
»Meinen Sie, dass es damals üblich war, Vorfälle auf diese Weise zu vertuschen?«, fragte Sal.
»Üblich war es nicht, aber machbar schon«, antwortete Webley. »Damals habe ich selber gerade als Polizistin angefangen – nicht
hier, sondern bei der Polizei von Essex. Es war einfach eine andere Welt.« Ob diese beiden jungen Menschen sich den Unterschied
überhaupt vorstellen konnten? Damals hatte die Polizei ein reines Schwarzweißbild gehabt. Ein differenzierter Blick auf die
Grauzonen war nicht möglich gewesen. Plötzlich lächelte sie. »Morgen zum Beispiel besuche ich ein zweitägiges Seminar über
ganzheitliche Polizeiarbeit. Ja, Sie beide grinsen nicht einmal. Aber damals, 1979, wäre das ein echter Kracher gewesen.«
Sie nahm den Aktenvermerk vom Tisch und legte ihn in eine Schreibtischschublade. »Ehrlich gesagt bin ich überrascht, dass
wir immerhin das hier bekommen haben, aber der Vermerk scheint Alain de Minchings Aussage zu bestätigen. Und wie sehen Sie
die Sache nun, Fletcher, in Anbetracht all dessen, was wir inzwischen wissen?«
Sie beobachtete den Inspector, der den Kopf in den Nacken gelegt hatte und an die Decke blickte. Sal beobachtete ihn ebenfalls,
wie ihr auffiel.
»Möglicherweise«, sagte Fletcher, »ist das Ganze nur ein schreckliches Missverständnis. Iwans Vater stirbt, Iwan verbeißt
sich in die Sache und schickt Olga los, um mehr herauszufinden. Als sie mit Jake anbandelt, läuft die Sache schief. Einiges
können wir bisher noch nicht erklären, zum Beispiel, wer Ron Tevershams Haus auf den Kopf gestellt hat und woher Jake Skerrit
das viele Bargeld hatte. Andererseits muss ich
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