Tod einer Strohpuppe: Kriminalroman
ihr gewachsen
waren. Sie dachte an die Zeit zurück, als sie selbst in Sals Alter gewesen war – da hatte sie auch immer zu viel Druck gemacht
und Männern, die ihr blöd kamen, eine verpasst. Sal war stark. Derjenige, um den sie sich Sorgen machte, war Fletcher. Denn
trotz seiner überragenden Leistungen und seiner Tapferkeitsmedaille spürte sie da irgendetwas. Er hielt etwas verborgen. Sie
wünschte, er würde mehr reden und ihr sagen, was es war.
Diese verdammte Tapferkeitsmedaille. Ich erinnere mich noch so gut an den Vorfall und an das, was er getan hat. Ich war so
stolz auf den Jungen, dass ich ihn in die Arme nahm und fest an mich drückte. Ich war so verdammt stolz auf Tom Fletcher.
War das ein Fehler?
Sie sah auf. Er begegnete ihrem Blick.
»Dann also los«, sagte sie. »Tun Sie alles, um diese Russen vor Samstag aufzutreiben.«
Fletcher wechselte noch ein paar Worte mit Sal und ging dann allein durch den Büroflur. Die meisten Räume lagen verlassen
da, die Schreibtische streifig vom Licht der Straßenlaternen, das durch die Spalten der Jalousien sickerte. Die Leuchtdioden
verschiedener Geräte glühten im Dunkeln. DI Franks war, eine Pizzaschachtel vor sich, am Schreibtisch eingenickt.
Fletcher ging in den Kontrollraum und spürte, wie wenig die Stadt nachts zur Ruhe kam: Über die Plasmabildschirme flackerten
die Aufzeichnungen der Videokameras, ein Reigen von Vorfällen, Ereignissen und Zwischenfällen.
Ein schwitzender Police Constable reichte ihm ein Blatt, auf dem nur eine einzige Zeile ausgedruckt war: das Ergebnis seiner
Anfrage nach dem dunklen Omega. Das Kennzeichen war gefälscht. Die Streifenwagen hatten Anweisung erhalten, nach Wagen und
Kennzeichen Ausschau zu halten, doch bisher ohne Erfolg. Fletcher warf das Blatt in den Abfalleimer.
»Rufen Sie mich an, wenn der Wagen gefunden wird. Ich bin zu Hause.«
Fletcher parkte auf seinem Stellplatz im All Saints’ College, den er zwei Jahre zuvor als Geste der Dankbarkeit zugewiesen
bekommen hatte, weil es ihm gelungen war, den vermissten Sohn des Quästors aufzufinden. Fletcher war sich vollkommen bewusst,
dass acht Quadratmeter freier Asphaltfläche in Cambridge die denkbar kostbarste Belohnung darstellten. Es war ein Privileg,
über das er sich immer wieder freute. Er genoss es, das Vorhängeschloss der Parkplatzkette mit seinem Schlüssel abzuschließen
und beim Weggehen zu hören, wie noch eine Weile Metall gegen Metall klirrte.
Der Regen hatte aufgehört, stattdessen hing jetzt ein dichter Nebel in der Luft und legte sich kühl auf sein Gesicht, als
er mit dem Schlüssel in der Hand in die Green Street einbog. Über die Bürgersteige plätscherte noch das Wasser aus den Dachtraufen.
Die Schaufenster waren regennass und das Licht, das durch die Scheiben auf die Straße fiel, gebrochen. Kurz darauf war er
zu Hause angekommen.
Nach seiner Scheidung hatte er den Gedanken, sich wieder ein Haus zu kaufen, zumindest vorläufig aufgegeben. Seine jetzige
Wohnung hatte er ganz impulsiv gemietet. Sie war ziemlich ungewöhnlich geschnitten und ursprünglich dieHausmeisterwohnung des im selben Gebäude liegenden Kaufhauses gewesen. Er schaltete das Licht im Treppenhaus ein und stieg
in den obersten Stock. Das Kaufhaus hatte zwar schon vor Jahren zugemacht, doch etwas von dem alten Hausmeister war zurückgeblieben:
Die Treppe duftete noch immer nach seinem Holzwachs.
Das Licht ging aus, bevor er oben ankam, aber es war trotzdem nicht vollständig dunkel. Als er den obersten Treppenabsatz
erreichte, schien der Mond rund und voll durch die regennasse Glaskuppel des Dachs. Fletcher fingerte nach seinem Wohnungsschlüssel
und fragte sich, ob er diesen Wachsgeruch wohl irgendwann sattbekommen würde. Er verharrte reglos. Er roch das Wachs, doch
da war noch etwas anderes.
Ein Geruch nach feuchter Kleidung und Zigarettenrauch. Er drehte sich um.
Der Junge stand in einer dunklen Ecke des Treppenabsatzes. Er trat vor, und das scheckige Licht der Kuppel fiel ihm ins Gesicht.
»Hi, Tom. Ich hab dem Regen zugeschaut«, erklärte er.
Fletcher sah ihn an. Er trug Turnschuhe, weite Jeans und einen alten, regenfeuchten Parka. Sein Haar war rötlichbraun und
jetzt vom Regen dunkel, die Augen waren groß und grau und das blasse Gesicht sommersprossig. Er sah gut aus.
Darunter entdeckte Fletcher etwas, das ihm niemals entging – etwas, das ihn veranlasste, einen Moment die Augen abzuwenden.
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