Tod einer Strohpuppe: Kriminalroman
Iwan mit Judith Denton
geredet hat? Wie vertraut die beiden da wirkten? Wir müssen noch mal mit ihr sprechen. Und was ist das hier?«
Sal trat zurück und band sich das Haar hinten zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sie trug Baumwollhosen mit Bügelfalte und ein
ärmelloses Top. Sein Blick fiel auf die kleine Impfnarbe zwischen den Sommersprossen ihres Oberarms. Sie sah ihn an und sagte:
»Das Ergebnis einer zweistündigen Recherche über die Verbrechenswelle, die 1978 von Wittris ausging. Ein Ausbruch gewalttätiger
krimineller Energie schockierte das Land. Erinnerst du dich nicht mehr daran?«
»Ich war damals drei. Und du?«
»Ich wurde gerade gezeugt.« Sie zeigte auf einige der vor ihnen ausgebreiteten Seiten. Es waren Kopien alter Zeitungsausschnitte.
»Dein Freund bei den
Evening News?«
»Genau, mein Freund Derek. Fletcher, die Polizeidatenbank vermittelt einem nicht, was für eine Angst die Leute damals hatten.
Oder vielmehr: gewisse Leute. Denn die Kriminellen schlugen nicht zufällig zu. Ihre Opfer hatten alle eines gemeinsam: Sie
waren wohlhabend.«
Die Ausschnitte zeigten grobgerasterte alte Zeitungsfotos, auf denen schöne, große Häuser zu sehen waren. Den darunter prangenden
Schlagzeilen konnte man entnehmen, was dort vorgefallen war: HAUS UND STALLUNGEN GEPLÜNDERT. LUXUSLIMOUSINE VERBRANNT. ANTIQUITÄTEN GESTOHLEN. EHEPAAR MIT TOTSCHLÄGER GEPRÜGELT.
Sie verrammeln die Türen und beten – wir berichten aus den Dörfern im Belagerungszustand.
»Ziemlich übel«, stimmte Fletcher zu. »Aber Thinbeach oder
The Wake
ist hier nirgendwo erwähnt.«
»Wir wissen, dass ähnliche Verbrechen in Thinbeach begangen wurden. Das hier soll dir etwas von der Panik vermitteln, die
damals herrschte. Und was
The Wake
anbelangt – ja, der Name wird hier tatsächlich nicht erwähnt. Aber warum auch? Es war doch nur ein historischer Verein. Es
gibt allerdings eine andere Gruppe, von der hier sehr häufig die Rede ist.«
»Nämlich?« Er sah sie an und stellte fest, dass sie eine graue Sonnenbrille aufgesetzt hatte, was es schwierig machte, in
ihren Augen zu lesen. Er setzte seinerseits die Sonnenbrille auf, denn trotz der geöffneten Heckklappe wurde das Licht immer
greller.
Sal legte drei Fotos auf die Kofferraumablage. Es waren Kopfbilder, die man früher wohl Verbrecherfotos genannt hätte. Eine
Bremse setzte sich kurz auf eines der Bilder, flog aber gleich zu den Kühen weiter, die jetzt friedlich grasend auf der Weide
standen. Es waren Aufnahmen von drei weißen Jugendlichen, vermutlich alle noch Teenager. Alle drei hatten das für die Fens
typische kantige Kinn, fettiges Haar, das ihnen tief in die Stirn fiel, Ohrringe und einen finsteren Gesichtsausdruck. Sal
legte einen weiteren Zeitungsausschnitt darunter:
SIE NENNEN SICH DIE LOVELY BRIGADE
OBSZÖNE WANDSCHMIEREREI
Gerüchten zufolge hat die Bande von Kriminellen, die seit Wochen Hausbesitzer in den Fens terrorisiert, sich den Namen
The Lovely Brigade
gegeben, eine Anspielung auf die italienische Terrorgruppe »Rote Brigaden«. Auf einer Wandschmiererei nahe dem letzten Tatort
stand zu lesen: »
Lovely Brigade
– wir reißen den Reichen den A**** auf.«
»Die ›Roten Brigaden‹?«, fragte Fletcher. »Das war doch diese marxistische Terrorgruppe in Italien. Aber die
Lovely Brigade
?« Er betrachtete die Gesichter. »Hübsch sehen die ja nicht gerade aus.«
Wenn man einmal davon absah, dass es sich um ein Foto handelte, hätten die Burschen, schmuddelig, finster und leicht unterernährt,
wie sie wirkten, auch einem viel früheren Jahrhundert entsprungen sein können.
Sal rieb sich nachdenklich über die alte Impfnarbe an der Schulter. »In den Polizeiakten«, erklärte sie, »tauchen ein paar
Namen immer wieder auf. Das waren Jungs, die zwar verhaftet wurden, dann aber nicht oder nur wegen Bagatellen angeklagt werden
konnten, obwohl die Polizei und die Leute in den Fens überzeugt waren, dass sie viel schlimmere Dinge auf dem Kerbholz hatten.«
»Meinst du diese drei?« Fletcher betrachtete die Bildunterschriften der Fotos:
Terry Swilter, 19 Jahre; Shane »Flame« Gaffy, 17 Jahre; Paddy Legsey, 16 Jahre.
»Ja, das waren die Anführer.«
»Und warum
Lovely?«
»Weil sie alle aus derselben Straße kamen. Die einen hübschen Namen hatte: Lovely Street. Und jetzt rate mal, wo die Lovely
Street liegt.«
Er blickte sie über den Rand seiner Sonnenbrille an. »In
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