Tod einer Strohpuppe: Kriminalroman
treffen, wo es sicher für ihn wäre, zum Beispiel auf dem Gelände der alten Raketenbasis.
Er soll mir eine Uhrzeit nennen.« Sie erwiderte nichts, versetzte aber dem Boxsack einen Schlag, der so laut knallte, dass
ein paar Moorhühner, die am Ufer schwammen, erschreckt aufflogen. »Iwan nutzt Sie aus, Judith. Er benutzt Sie, um Ihren Vater
zu quälen.«
Sie ging nicht auf diese Bemerkung ein, doch der Stachel blieb stecken.
Ist das wahr?
Fletcher wandte sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um.
»Sie müssen sich darüber klar sein, dass er ein sehr gefährlicher Mann ist. Er ist gewalttätig und besitzt die Begabung, Menschen
in seiner Umgebung zu manipulieren.«
Judith schaute zum Haus hinüber.
»Von wem reden Sie jetzt eigentlich?«
»Sie können meinem Mandanten jetzt Ihre Fragen stellen.«
Fletcher sagte nichts, so wie auch Thomas Denton nichts gesagt hatte, als sie ihn abholten. Er hatte sich schweigend nach
Judith umgeschaut, die ihnen nachsah, und auf der ganzenFahrt nach Cambridge kein Wort gesprochen, abgesehen von der kurzen Bitte, seinen Anwalt zu informieren.
»Inspector? Ich sagte, dass mein Mandant Ihre Fragen erwartet.«
Der Rechtsbeistand war aus Newmarket und mit Sicherheit sehr teuer, Sonnenbräune und Siegelring inklusive. Denton saß neben
ihm, die Augen stumpf im Neonlicht des Verhörraums.
Der Anwalt sah von Fletcher zu Sal Moresby. Sal blickte nicht einmal auf und widmete sich weiter einem Dokument, das, wie
Fletcher wusste, die Buchungsbestätigung für ihren Flug um 18.30 Uhr von London-Stansted nach Lissabon war. Daneben lag das Blatt mit Billy Breakmans Adresse im Golfparadies. Der Anwalt schaute
finster.
»Wenn Sie keine Fragen haben, Inspector, gehen wir jetzt.«
»Sie können jederzeit gehen, Thomas. Da vorn ist die Tür.«
Dentons Augen verzogen sich zu Schlitzen. Obwohl es im Verhörraum warm war, hatte er die Lederjacke anbehalten, und seine
großen Hände lagen zu Fäusten geballt auf dem Tisch.
»Das reicht, Inspector. Mein Mandant und ich gehen. Wir werden offiziell Beschwerde gegen Sie einlegen.« Der Anwalt wollte
aufstehen. Thomas hinderte ihn mit einer Geste daran. Dann rückte er die Rolex unter seiner Manschette zurecht.
»Dann schießen Sie mal los«, sagte er tonlos.
»Okay, Thomas«, antwortete Fletcher. »Es geht hier um etwas, das vor langer Zeit geschehen ist.«
Denton sah zu seinem Anwalt, der die Augen auf seinen Notizblock richtete.
»Es geht um Vorfälle, die bis heute nicht richtig geklärt zu sein scheinen. Aber niemand kann seiner Vergangenheit entrinnen.«
»Das ist alles sehr tiefsinnig, aber ich warte immer noch auf die Frage für meinen Mandanten.«
»Gewiss.«
Denton sah Fletcher in die Augen, und der bemerkte zum ersten Mal Nervosität bei dem Befragten.
»
The Wake
.«
Der Anwalt runzelte die Stirn, doch Fletcher behielt Denton fest im Blick. Was er da sah, gefiel ihm nicht. Denton reckte
das Kinn, und der Schimmer von Furcht wich aus seinen Augen. Zu seiner eigenen Überraschung befand er sich plötzlich auf sicherem
Boden. Dieser Gedanke lag Fletcher schwerer im Magen als eine offizielle Beschwerde.
»
The Wake
?«, gab Denton zurück. »Davon hatte ich Ihnen doch schon erzählt, als Sie zum Essen bei mir waren. Wir waren ein historischer
Verein und verkleideten uns mit Kostümen. Sie haben mich hierhergeschleppt, nur um mich schon wieder dasselbe zu fragen?«
»Sie haben meinen Mandanten schon befragt? Das ist bedenklich.«
»Er war zum Essen bei mir, verdammt noch mal.«
»Bedenklich ist vielmehr«, sagte Fletcher, »dass hier ein russischer Psychopath herumläuft, der
The Wake
mit dem Tod seines Vaters im Januar 1979 in Verbindung bringt. Nun sind russische Psychopathen im Allgemeinen recht unberechenbare
Menschen, Thomas. Sie saufen Frostschutzmittel, werden von Stimmungsschwankungen heimgesucht und all so was. Dieser spezielle
russische Psychopath dagegen ist ein Mensch, der ausgesprochen planvoll vorgeht. Er hegt keinerlei Zweifel, dass
The Wake
beim Tod seines Vaters eine Rolle gespielt hat. Wie kommt er auf diesen Gedanken?«
»Wie soll man das bei einem Wahnsinnigen wissen? Sein Freund war bewaffnet, und Sie sind nicht eingeschritten. Die beiden
sind einfach Geistesgestörte.«
»Tatsächlich? Oder können Sie mir etwas über
The Wake
erzählen, was ich nicht weiß?«
Denton sah ihn unverwandt an, und noch immer war dieFurcht nicht in seine Augen zurückgekehrt. Doch
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