Tod einer Strohpuppe: Kriminalroman
in den Unterlagen nach.
Ulsingham Hall.
Der Name kam ihm bekannt vor.
Er überflog die Seiten mit dem Bericht des Gerichtsmediziners. Beim Sturz auf die Leitungen hatte Terry Swilter sich das linke
Bein und den rechten Arm sowie drei Rückenwirbel gebrochen, weshalb er sich (wie der Coroner vermutete) nicht hatte wegwälzen
können, als der Strom für drei Dörfer durch seinen Körper zuckte. Als Todesursache waren großflächige Verbrennungen angegeben.
Fletcher schloss die Unterlagen. Der Junge war bei vollem Bewusstsein verschmort.
Er öffnete die andere Akte: Shane Gaffy. Bei der Explosion des Jaguars hatte Shane brennendes Benzin eingeatmet und schwere
Verbrennungen der Haut und der Atemwege erlitten. Er hatte innerhalb von Sekunden das Bewusstsein verloren und war (wie der
Coroner endete) vor seinem Tod nicht mehr aus dem Koma erwacht.
Das Fazit lautete bei beiden Jungen gleich: tödlich verunglückt. Und nicht nur dieses abschließende Urteil war dasselbe. Fletcher
fiel auf, dass die gerichtliche Untersuchung der Todesfälle beide Male vom selben Coroner abgezeichnet war.
Fletcher kannte den Namen. Gerichtliche Untersuchungen führte dieser Mann nicht mehr durch, denn er war inzwischenVizekanzler des prestigeträchtigsten Colleges von Cambridge. Erst kürzlich hatte Fletcher ihn in den Nachrichten gesehen,
als er die Forderung der Universität nach einem neuen Tierversuchslabor propagierte.
Ja, die beiden Dossiers hatten große Ähnlichkeit. Sie fühlten sich sogar ähnlich an. Sie hatten die gleiche Länge, zwölf Seiten.
Die Originale waren auf einer Schreibmaschine aus den siebziger Jahren getippt worden und voller Eselsohren.
Fletcher blätterte den Stapel noch einmal durch. Noch eine Gemeinsamkeit fiel ihm auf. Beide Male hatte derselbe Polizeibeamte
die Untersuchung durchgeführt. Es war ein Detective Sergeant. Auch diesen Namen kannte Fletcher: So hieß der stellvertretende
Polizeichef in einer benachbarten Grafschaft. Falls es sich wirklich um denselben Mann handelte, hatte sich seine Gründlichkeit
beim Aufstieg in die obersten hierarchischen Regionen offensichtlich ausgezahlt.
Und noch ein letzter Punkt war beiden Akten gemeinsam. Dem Bericht eines Coroners lagen normalerweise mindestens sechs Fotos
vom Schauplatz des Todes bei, aus verschiedenen Blickwinkeln geschossene Aufnahmen, die den Kontext des Todesfalls dokumentierten.
Die Unterlagen hier enthielten dagegen nur jeweils ein Foto.
Fletcher beobachtete, wie das tropfnasse Trio wieder die Leiter zum obersten Sprungbrett hinaufstieg, immer dicht hintereinander.
Er betrachtete noch einmal Terry Swilters Akte. Ulsingham Hall, so hieß das Herrenhaus. Ihm war ein bisschen flau im Magen.
Vielleicht lag das an den tropischen Temperaturen in der Zuschauergalerie. Vielleicht aber auch daran, dass er über Coroner
und ehrgeizige Detective Sergeants und die Art von Leuten nachdachte, die in noblen Häusern wie Ulsingham Hall wohnten. Solche
Leute klettern die Karriereleiter hinauf, bis sie ganz oben sind. Und wenn sie es geschafft haben, bleiben sie oben und lassen
sich bewundern.
Webleys Fortbildungsseminar endete kurz nach siebzehn Uhr. Da reichte es ihr auch allmählich. Der Saal in der Guildhall, dem
Rathaus von Cambridge, war erstickend heiß, und das lauwarme Trinkwasser in den Karaffen war auch nicht gerade erfrischend.
Sie schaffte es, unauffällig zu verschwinden, als der gesellige Teil begann und die Teilnehmer sich untereinander mischten,
um Kontakte zu knüpfen. Das kam ihr immer so vor, wie wenn Köter sich gegenseitig beschnüffeln. Trotz der Hitze freute sie
sich darauf, zu Fuß und in Zivil durch das nachmittägliche Treiben im Zentrum von Cambridge zu ihrem Büro zu gehen. Danach
würde sie im Fitnessraum eine Weile trainieren. Und nachdenken.
Sie trat aus dem Foyer auf die sonnenüberflutete Vortreppe der Guildhall. Als sie unten auf dem Bürgersteig Tom Fletcher erblickte,
der dort offensichtlich auf sie wartete, blieb sie kurz stehen. Dann ging sie zu ihm. Abgesehen davon, dass er keine Krawatte
trug, wirkte er so gelassen wie immer, aber es hatte auch den Anschein, als müsse er unbedingt mit jemandem reden.
»Polizeieskorte?«, fragte sie.
»Wie war das Seminar?«
Sie schaute sich um und genoss die Sonne.
»Die Rolle der Polizei in einem ganzheitlichen Approach der Kriminalitätsprävention. Verstehen Sie, wir gehören zu einem Geflecht
von Organisationen, die
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