Tod einer Strohpuppe: Kriminalroman
schlug sich gegen die Stirn und beugte sich ganz dicht an Dentons Ohr: »Ach, wie dumm von mir. Sie werden ja gar nicht
im Gefängnis sitzen.« Denton wich mit dem Oberkörper zurück und betrachtete sie blinzelnd durch den Rauch hindurch. »Sie werden
gar nicht im Gefängnis sitzen, Thomas«, flüsterte Sal. »Der Russe wird Sie nämlich schon vorher erwischen.«
Fletcher, der am Fenster seines Büros stand, sah den Wagen losfahren. Was auch immer Sal gerade gesagt hatte, es hatte Thomas
veranlasst, seine Funken sprühende Zigarre gegen die Wand zu schleudern und die Tür des Mercedes krachend hinter sich zuzuschlagen.
Fletcher nahm an, dass Sal ihn auf Judith angesprochen hatte, doch er selbst grübelte noch immer über den unerwarteten Verlauf
des Verhörs nach. Er dachte an den Moment, als Thomas’ Selbstbewusstsein ganz plötzlich zurückgekehrt war. Und wie er gesagt
hatte:
Warum sind Sie eigentlich so dahinter her?
Interessante Bemerkung. Nicht etwa:
Worum geht es überhaupt?
oder
Warum fragen Sie
mich
das?
Sondern:
Warum sind Sie eigentlich so dahinter her?
Als wäre er zwar erstaunt, dass Fletcher nicht lockerließ, aber unbesorgt, weil es im Grunde ohnehin keine Rolle spielte.
Fletcher füllte ein Verhörformular des Innenministeriums aus, wie es nach jeder Befragung in den Räumen der Polizei Pflicht
war. Er machte Angaben zu Thomas Dentons ethnischem Hintergrund und kreuzte an, ob dieser vorher Medikamente genommen hatte,
ob er darum nachgesucht hatte, beten oder meditieren zu dürfen, und ob ihm die Hilfe eines Rechtsbeistands angeboten worden
war.
Dann hielt Fletcher plötzlich inne. Er griff zum Hörer und rief im Bezirksarchiv an. Der Beamte dort erklärte mit näselnder
Stimme, er müsse vor Büroschluss um siebzehn Uhr noch mehr als genug Akten herauskramen. Einen ganzen Berg von Akten sogar.
Fletcher schloss die Augen. Dann sagte er, dass Sal Moresby für die Hilfe
sehr
dankbar wäre.
Sal fuhr nach Hause, um ihren Reisepass zu holen. Es war niemand in der Wohnung und es herrschte eine Gluthitze, obwohl die
Vorhänge vor dem Balkonfenster zugezogen waren. Im Halbdunkel des Zimmers stopfte sie Wäsche zum Wechselnin einen Rollkoffer und war nach fünf Minuten wieder draußen. Es war ein gutes Gefühl, nur mit ihrem eigenen Kram im Koffer
allein aufzubrechen.
Sie traf Fletcher in der Zuschauergalerie des Hallenbades. Dort war es schwül und laut. Ein Springertrio stand auf dem Sprungbrett.
Der erste Springer nahm Anlauf, sprang ab und drehte sich mehrmals, bevor er ins Wasser schoss.
Die Hände im Nacken verschränkt, starrte Fletcher zur Hallendecke hinauf. Auf dem Sitz neben ihm lagen mehrere Seiten mit
Computerausdrucken.
»Du bist dem Typ im Archiv einen Drink schuldig. Tut mir leid.«
»Ein Glas Apfelwein kostet nicht viel.« Sie setzte sich. »Du hast ihn um die kompletten Unterlagen gebeten?«
»Jede einzelne Seite aus den Berichten des Coroners.«
»Sauer wegen Thomas Denton?«
»Eher verwirrt, aber Denton ist letztlich nicht wirklich wichtig. Wichtig ist Billy Breakman. Er war das einzige Mitglied
von
The Wake
, dessen Gesicht und Namen Jake Skerrit kannte. Auf Jake Skerrits verrücktem Wandbild war nur Billys Gesicht erkennbar, erinnerst
du dich? Und auf den Zeitungsfotos ist ganz deutlich Billy unter den Schaulustigen zu sehen. Dein Gespräch mit Billy ist entscheidend.«
Sie sah ebenso wie er zu der vor Feuchtigkeit glänzenden Hallendecke auf.
»Warum kommst du nicht mit, Fletcher?«
Sie nahm den Zettel entgegen, den er ihr reichte. Es war eine Nachricht auf einem Vordruck der Telefonzentrale: Eingang heute,
15.23 Uhr, Anrufer anonym, weibliche Stimme, Rufnummerübermittlung blockiert. Die Nachricht lautete:
SONNENUNTERGANG.
»Weil ich mich heute Abend mit Iwan treffe.«
Als Sal weg war, blieb Fletcher noch eine Weile sitzen.
Warum sind Sie eigentlich so dahinter her?
Er vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe saß, und nahm dann das Material zur Hand, das er per Mail aus dem Archiv erhalten
hatte: die kompletten Akten von 1978 über die tödlichen Unfälle von Terry Swilter und Shane »Flame« Gaffy. Swilters Akte nahm
er sich als Erste vor.
Das Foto vom Unfallort: Terrys verkohlte Leiche auf den Hochspannungsleitungen. Der rückwärtige Teil des Herrenhauses war
im Hintergrund zu sehen, eine eindrucksvolle Dachsilhouette aus dem achtzehnten Jahrhundert. Wie hieß das Haus noch mal? Fletcher
schaute
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