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Tod eines Eisvogels - Roman

Tod eines Eisvogels - Roman

Titel: Tod eines Eisvogels - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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und listete – Posten für Posten – ihre täglichen Einkäufe auf.
    Verschmierte Teller und Kaffeetassen im Ablauf, Krümel auf dem Tisch, vergilbte Zeitungsstöße neben dem Nordmende-Radio und die kleine Plastikwaage, darin Mutters diverse Brillenetuis und in ein Papiertaschentuch eingewickelte Goldzähne: tausendmal gesehene Stilleben, Koordinaten unserer Leben, die in trister Gleichförmigkeit dort verliefen und irgendwann versanden würden.
    Die hufeisenförmig ineinander übergehenden Zimmer mit den echten Brücken auf dem grobgemusterten, billigen Teppichboden, die verschlissene Couchgarnitur mit dem Blümchenmuster, die fleckigen undnicht zueinander passenden Deckchen, die Mutter jedesmal unter die Teller legte, kam jemand zu Besuch, und das vornehme Getue, wenn plötzlich kleine Gäbelchen auf dem Wurst- und Käseteller lagen – all das verstand ich erst viel später, wenn ich Mutter im Stift besuchte und sah, mit welcher Genugtuung sie ihre neuen Blusen, ihre enger gemachten Boutiqueschnäppchen, ihre Bally-Schuhe, Brillantsplitter und Tigeraugen vorführte.
    Dabei hielt sie den Kopf stets hoch erhoben und leicht schief wie eine, die über Mauern schaut. Nach Vaters Tod, damals, ein erstes Aufatmen, Mutters kleine Fluchten, die sie sich immer häufiger gestattete. Ab und zu Konzertbesuche, später gar ein Theaterabonnement, ein Goldarmband – wahrgewordene Träume, die ihr vorgekommen sein müssen wie die verdiente Entschädigung für das langsame Sterben ihres Mannes, das sich im psychiatrischen Krankenhaus Marburg, eineinhalb Stunden von ihr entfernt, abspielte. Am Ende erkannte er sie nicht mehr.
    Lange, so gestand sie mir einmal, habe sie gebraucht, um sich, ohne würgen zu müssen, an seinen fauligen Gestank erinnern zu können. Da stand ich nun in unserer alten Wohnung, in diesem staubigen, von den Jahrzehnten vergilbten Raum, der einmal unser Wohnzimmer gewesen war, und dachte an Mutters immer leicht schmuddeliges Geschirr; hier eine überseheneKruste am Tellerrand, da eine Kaffeespur an der Tasse und ihr gespieltes Händewaschen, kam sie vom Klo.
    Rechts hatte die Musiktruhe gestanden, auf deren Plattenspieler Leni ihre alten Chris-Andrews-Platten und »Penny Lane« von den Beatles und ich später meine erste Creedence-Clearwater-Revival-Single wieder und wieder gespielt hatten. »Hey tonight« hatten sie, von blechern klingenden Gitarren angetrieben, als Refrain gegrölt, daß Mutter aus der Küche kam und mich mit eindringlichem Blick aufforderte, »das Ding« endlich leiser zu stellen.
    Und kam Leni wieder einmal für ein paar Tage aus Gießen zu Besuch, dann inspizierte sie alles: ihr altes Zimmer, meine unterdessen angewachsene Plattensammlung und ebenso die ihr wohlvertrauten Bilder an den Wänden schien sie mit Befremden zu betrachten.
    Auch von Vater sind mir nur die immer gleichen Bilder geblieben: Vater als geistesverwirrtes Gespenst an seinem letzten Weihnachtsfest im Kreise seiner Lieben. Viel früher: Vater, den Hut tief in die hohe Stirn gezogen, Vater als zuprostender Schnapstrinker in lustiger Wohnzimmerrunde am ausgezogenen Eßtisch neben den Grafrieds, Onkel Friedel aus dem ersten Stock und seinem Gartenfreund Günther Mack. Vater auf Fotos: ein junger Mann mit den gleichen, aber nochviel weicheren Zügen, dem inzwischen schon lichten Haar. Hosenträger, Aktentasche, Fahrradklammern: Vater!
    Und seinen dicken Siegelring sehe ich immer noch vor mir. Mutter behauptete, einer der Pfleger müsse ihn Vater kurz vor seinem Tod vom inzwischen dürr gewordenen Finger gestreift und an sich genommen haben, ein eigentümlich klotziges Stück. Er ist nie wieder aufgetaucht, der Ring.
    Da war mir, als hätte ich mich in ein geplündertes, gespenstisches Museum verlaufen oder an ein offenes Grab, aus dessen Tiefe mir noch einmal die Stimmen der Abwesenden zuflüsterten, die einst in diesen Räumen ausgelassen gefeiert, geweint und zuletzt immer häufiger geschwiegen hatten.
    Hätte ich in diesen Sekunden nicht mit Bestimmtheit gewußt, daß Mutter eine knappe Autostunde entfernt in ihrem hellen, frisch tapezierten Zimmer saß und mit hochgelegten Beinen darauf wartete, von ihren Rommé-Damen aus ihrem nachmittäglichen Dösen erlöst zu werden – ich hätte glauben können, dies alles hätte es hier nie gegeben: nicht Vaters uns alle lähmende Angst, der er am Ende in seinen Delirien erlag, nicht Mutters neidische Versuche, alles schönfärberisch umzudeuten, was hier im jahrelangen

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