Tod eines Holländers
traurig nach den kläglichen Überresten ihrer bürgerlich- wohlhabenden Welt u m : die Fotos in den silbernen Rah m en, das ar m selig ge s ch m ückte P a pstbild, der wackelige Küchentisch m i t der karierten Plastikdecke.
»Ich bin zu alt, viel zu a lt « , j a mmerte sie. » Ich sollte tot sein… Das ko mm t dabei heraus, wenn m an seine Zeit überdauert.«
» Aber, Signora! Ich bitte Sie…«
» Sie haben keine Ahnung! Sie wissen nicht, was das bedeutet. Ich bin niemand. Ich bin nur eine alte Frau, die nichts m ehr zu sagen hat, die keine Persönlichkeit m ehr ist. Von m ir ist nichts m ehr übrig. Es gibt niemanden m ehr, der m ich kannte, als ich… Was gibt es über m ich zu sagen, außer daß ich einundneunzig bin…«
»Es ist nicht wahr, daß S i e keine Persönlichkeit sind « , sagte der Wachtm e ister völlig aufrichtig, denn ihre Boshaftigkeit war bekannt, bisweilen sogar gefürchtet. Aber, dachte er, vielleicht war es auch Absicht; es war ihre Art, Anerkennung zu suchen, statt im m er nur als ›altes Muttchen‹ bevor m undet zu werden.
Sie weinte jetzt. Das Taschentuch, das sie hervorgezogen hatte, war alt und spitzenbesetzt, schon ziemlich eingerissen und fleckig, aber die Initial e n waren noch zu erkennen. Da er nicht wußte, was er sonst tun sollte, schob er ihr die Konfektschachtel zu.
» Die m it Schokolade sch m ecken nic h t « , schi m pfte sie.
» H i er … « er drehte die Schachtel heru m , »hier lin k s ist eins m it Vanille . «
Sie nahm es, schnupperte daran und steckte es sich m it einem Schluchzer in den Mund.
»Was haben Sie dem Offizier gestern denn nicht erzählen wollen ? «
» Kleinigkeiten, Persönliches, Dinge, die m an mir vertraulich berichtet hat, verstehen Sie. So ein junger Mann… na ja, Sie haben Fa m ilie, das erkenne ich. Sie s i nd ein guter Vater, nicht so einer, der seine alte Mutter in ein Krankenhaus abschiebt, so wie es heutzutage üblich ist – lebt Ihre Mutter noch ? «
» Ja, ja, sie l e bt noc h « , mur m elte der Wachtm e ister, » obwohl es ihr gesundheitlich nicht b esonders geht … «
» Aber würden Sie sie denn in ein Krankenhaus stecken und sich dann einen fröhlichen Ur l aub m achen?«
Ihre listigen, tränenfeuchten Augen bohrten sich tief in sein Gewissen. Es war schon unheimlich, mit welch untrüglichem Instinkt m a n che Frauen wußten, wo sie ansetzen m ußten, u m einem Me n schen größ tm öglichen Sch m erz zuzufügen, se l bst wenn sie ihn überhaupt n i cht kannten.
» Nein, natürlich nicht … «
Diese Sorte Instinkt m ac h te viell e icht einen guten Kri m inalist e n aus, ein Ins t inkt dafür, welche Fragen m an einem Verdächtigen stellen, wo m an den Hebel ansetzen m ußte. Aber so oder so, er hatte keinen Verdächtigen, und diesen Instinkt auch nicht; aber Signora Giusti hatte ihn, und sie wußte m ehr als irgendjemand anders über den Holländer und dessen Fa m ilie. Wenn er es bloß schaffte, daß sie beim T h e m a blieb! Aber nein, schon wieder ließ sie sich von i hren Erinnerungen fortreißen.
»Ich neh m e an, Sie haben Kinder. Ich selbst habe nie welche gehabt. Wie hämisch sie sich darüber gefreut hat! Es war das einzige, was sie schließlich dazu brachte, m it m i r zu reden. Ihr Mann war nicht viel besser – ver m utlich war er ne i disch, weil wir in guten Verhältnissen lebten und m e ine Schwes t er, diese blöde Ziege, ihm das im m er wieder unter die Nase gerieben hat. Er war bloß ein kle i ner Eisenbahnangestellter, nicht m ehr. O ja, a m E n de war er so etwas wie Abteilungsleiter, aber sie m ußten immer sparen, woh i ngegen m ein Mann ja Ingenieur und anerkannt war und viel Geld verdiente. Natürlich kam er aus einer besseren Fa m ilie, sonst hätte ich ihn auch gar nicht genommen. Ich sage Ihnen, bei m einem Aussehen konnte ich wäh l erisch sein. Wir haben das ganze Tafelsilber geerbt, abgesehen von den Hochzeitsgeschenken, es war schon lange im Fa m ilienbesitz gewesen. Und jetzt ist davon fast nichts m ehr übrig… Wenn i ch Kinder hätte, die m ich unterstützen könnten… Nie werde ich d i e Taufe vergessen und ihren Mann, d i esen aufgeblasenen kleinen Idioten m it seinem steif e n Kragen, in dem er aussah, als würde er im nächsten Mo m ent ersticken… ›Wir danken Dir, Herr, daß Du uns einen Sohn geschenkt hast, auf daß er uns tröste in unseren alten Tagen.‹ Was für ein Schwachkopf! Und sie stand einfach da, das Kind in den Ar m en, und be m ühte sich gar nicht
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