Tod eines Holländers
Wachtmeister sah sich gezwungen, dem Leutnant ins Wort zu fallen, » aber ich verstehe überhaupt nicht, wovon Sie reden.«
» Nein ? … Aber haben S i e denn nicht die Acht-Uhr-Nachrichten gesehen ? «
» Nein… hab ich nicht . «
»Es war ja nur eine Kurz m eldung, die Einzelheiten sind noch nicht ganz klar. Im Kern geht es daru m , daß sie einen Sergeanten im Zug angegriffen hat.«
» S ie hat was ? «
» K e iner weiß, waru m . Es ist völlig rätselhaft. Es waren noch andere Reisende im Wa g en, und alle erklären übereinstimme n d: aus keinem ersichtlichen Grund. Der Mann hatte sie nicht angesehen, sie nicht angesprochen, ja nicht ein m al be m erkt. Es ist alles sehr schnell gegangen… Anscheinend hatte der Zug in Chiasso erheblich länger Aufenthalt als die ü b lichen zehn Minuten oder so. Ein Carabinieri-Trupp stieg ein, um stichprobenartig die Reisenden und das Gepäck zu kontrollieren… Seit dem Überfall der Roten Brigaden auf diesen Zug ist das ganz nor m ale Praxis, vor allem auf dem nördlichen Streckenabschnitt.
Den Augenzeugen zufolge hatte der Trupp den Kurswagen nach Calais noch gar nicht erreicht. Dieser Sergeant war schon etwas vorausgegangen. Er stand im Gang draußen, m it dem Rücken zum Abteil, und sprach m it dem Zugführer. Plötzlich sprang die Frau wie von der Tarantel gestochen hoch, riß die Abteiltür auf und fiel über den unglücklichen Sergeanten her, schlug m i t den Fäusten auf seinen Rücken ein und schrie dabei hysterisch. Sie können sich vorstellen, wie verblüfft er war. Allerdings hat sie i h m n i cht viel getan, er m uß wohl ziemlich kräf t ig sein, so e t wa Ihre Sta t ur. Er war aber ziemlich erschrocken, er sagt, er hat in seinem Leben noch nie so viel unverhüllten Haß auf einem Gesicht gesehen – außerdem ist seine Sonnenbrille bei d er Attacke kaputtgegangen, er hielt sie wohl auf dem Rücken, als sie auf ihn losging. Es ist bis jetzt völlig u nklar, was die ganze Sache ausgelöst hat . «
Der Wachtmeister schauderte. Zweifellos hatte der Angriff ihm gegolten. Hatte sie geglaubt, daß er noch eingestiegen war? Wenn sie sich, in der Annah m e, daß alles vorbei sei, entspannt zurückgelehnt hatte, dann konnte es j a nicht überraschen, daß i hr beim Anblick des breiten Rückens i n Khakiuniform die Nerven durchgegangen waren… » Ve r m utlich hat sie alles geleugnet ? «
» Keineswegs. Das Prob l em war nur, so schnell wie m öglich einen Dolmetscher in das Büro des Bahnhofsvorstehers zu bekommen, da m it alles festgehalten werden konnte. Sie kann zwar etwas Italienisch, hat ihren Gefühlen aber zu m eist auf englisch Luft gemacht. Sie hat überhaupt nichts geleugnet, im Gegenteil, sie beharrte d arauf, daß sie recht hatte – alle fanden, daß sie übergeschnappt war – m an war sogar überzeugt, daß sie die ganze Geschichte erfunden hatte. Vielleicht ist sie ja wirklich nicht ganz dicht – so eine Aktion zu s t arten. Schließlich… hat sie von uns auch noch Mitgefühl erwartet.
Es war alles m ehr oder weniger so, w i e Sie es ver m utet hatten. Die Schwes t er starb vor zehn Jahren an ein e m S c hlaganfall. Die beiden Frauen waren zu diesem Zeitpunkt allein im Haus, der Stiefsohn war in A m sterda m . Obwohl der Tod um sieben Uhr abends eintrat, wurde der Notarzt offenbar erst am nächsten Vor m ittag geholt. Sie gab seinerzeit an, sie seien früh zu Bett gegangen und hätten lange gesch l afen und sie hätte i h re Schwester t ot im Bett gefunden. Da nach der Obduktion zweifelsfrei feststand, daß ein Sch l aganfall die Todesursache gewesen war, hat ver m utlich niemand sich irgendwelche Gedanken ge m acht. Tat s ächlich m uß sie die ga n ze Nacht allein bei der Leiche gesessen und sich ihren Plan ausgedacht haben. Finden Sie n i cht, daß sie vielleicht doch verrückt is t ? «
» Sie ist verrückt, weil wir sie erwischt haben « , m ur m elte der Wachtmeister. Er besaß einen altmodischen G l auben an das Gefühl des Menschen für Gut und Böse, den kein psychiatrisches Gutachten bislang hatte erschüttern können.
»Wenn Sie gehört hätten, was m ir berichtet wurde… wie s i e sä m tliche Anwesenden beschi m pft hat. ›Ich hatte das Recht, es zu tun. Ich hatte Anspruch auf ein klei n es bißchen Glück in m ei n em Leben. Elf Jahre habe ich einen kranken Ehemann g epflegt, der zu nichts taugte und der m i ch, nach allem, was ich für ihn getan hatte, ohne einen Pfennig Geld hat dastehen lassen. Der m ich aus reiner
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