Tod eines Lehrers
du verstehst mich nicht. Du siehst nur schwarz und weiß, aber die Zwischentöne siehst du noch immer nicht.« Sie machte eine entschuldigende Geste und sagte: »Das war nicht persönlich gemeint, aber du hast früher schon immer ganz strikt zwischen Gut und Böse unterschieden. Doch das ist jetzt unwichtig, wir haben uns alle im Laufe der Jahre verändert. Es gibt starke, selbstbewusste junge Menschen, und es gibt labile, die sich ständig an andern orientieren, die irgendwo in der Ecke stehen, keine Freunde haben oder zu Hause nur Scheiße erleben. Entschuldige diesen Ausdruck. Schirner hat sich gezielt an die Labilen rangemacht, und Teichmann hat ihm dabei geholfen, wobei Schirner der Anführer war, Teichmann war nur Mitläufer. Aber ich mache da keinen Unterschied, schließlich hat er seinen Schwanz auch in die Mädchen gesteckt. Weißt du, ich arbeite jetzt seit sechs Jahren als Lehrerin, und ich habe festgestellt, dass nicht alle Sechzehn-, Siebzehn- oder Achtzehnjährigen gleich stark sind. Aber das müsstest du doch noch aus unserer Zeit wissen. Oder hast du Pauline vergessen, die immer außen vor stand, weil ihre Klamotten nicht en vogue waren und sie immer gleich knallrot anlief, wenn sie angesprochen wurde? Oder Jonas, der auch immer Außenseiter war, weil er uns allen intellektuell haushoch überlegen war, obwohl er uns das nie hat spüren lassen. Eigentlich hätte er auf eine Schule für Hochbegabte gehört, aber er wurde von den meisten von uns als Streber gehänselt. Er ist daran zerbrochen, er arbeitet jetzt als Buchhalter in einer kleinen Firma für Autozubehör. Solche Leute waren das Ziel von Schirner, natürlich mussten sie weiblich sein.«
»Aber warum hast ausgerechnet du ihn umgebracht?«
»Sagte ich doch schon, er hat es verdient. Er durfte nicht länger ungestraft Dinge tun, die andere kaputtgemacht haben. Dieses Monster hat die Notlage einiger Mädchen schamlos ausgenutztund seiner Geilheit, seiner unerträglichen, grenzenlosen Geilheit freien Lauf gelassen.«
»Woher weißt du das alles?«
»Es ist alles auf Band, hör’s dir an und bilde dir dein eigenes Urteil. Ich habe nur getan, was ich tun musste, weil er sonst nie aufgehört hätte. Er war fünfzig und hätte noch etliche Jahre so weitermachen können.«
»Als Herr Brandt mir das Video gezeigt hat, wollte ich es nicht wahrhaben. Wie hast du es rausbekommen?«
»Ist auch auf Band.«
»Aber du warst es nicht allein, du kannst es unmöglich allein gewesen sein. Wer hat noch mitgemacht?«
»Niemand. Ich war’s ganz allein.«
»Anja, wir waren doch Freundinnen, wir haben gemeinsam das Abi gemacht, du sogar noch einen Tick besser als ich …«
Anja Russler lachte kurz auf. »Komm, wir waren niemals Freundinnen, dazu sind wir viel zu unterschiedlich. Du bist wohlbehütet in der High Society aufgewachsen, ich hingegen …« Sie verzog den Mund und fuhr wieder mit der Hand über die Karte und warf einen langen Blick darauf.
»Ja und? Dein Vater ist Pfarrer. Ich weiß ja nicht, ob er es heute noch ist, aber …«
»…O ja, mein Vater, der heilige Pfarrer! Hat dein Vater dich jemals geschlagen?«
»Nein.«
»Schön für dich. Dann ist er auch nie nachts in dein Bett gekommen, wenn alle andern geschlafen haben. Du hast Glück gehabt.«
»Augenblick, soll das heißen, dein Vater hat dich missbraucht?«
»Ist lange her. Hat ja auch nur sieben Jahre gedauert«, sagte sie zynisch. »Sieben Jahre lang hat er mich gefickt, hat er gedroht und mir ein schlechtes Gewissen eingeredet. Ich sei ja selber schuld, warum sei ich auch so hübsch. Und es müsse immer unser Geheimnis bleiben, unser süßes kleines Geheimnis.« Sie hieltinne, steckte sich eine Zigarette an und fuhr fort: »Irgendwann merkst du gar nicht mehr, wenn er kommt, du wartest schon nicht mehr drauf, es passiert einfach. Du rutschst rüber, lässt es über dich ergehen und fertig. Und irgendwann fängst du an zu verdrängen, aber da ist immer die Schuld, dass du deinen Vater allein durch dein Aussehen dazu gebracht hast. Er hat mich so lange gefickt, bis alles in mir kaputt war. Ich stand ein paarmal kurz davor, mir das Gesicht zu zerschneiden, damit ich nicht mehr so hübsch bin, aber dann hat mir doch der Mut gefehlt. Aber als ich das von Schirner und Teichmann erfahren habe, da habe ich mir geschworen, etwas zu unternehmen. Die beiden haben viele Leben zerstört, und ich konnte so gut mit den Mädchen mitfühlen, die niemanden hatten, dem sie sich anvertrauen konnten,
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