Tod eines Lehrers
eine makellose Figur. Aber es war ihre Art, die Brandt nicht zusagte. Schon beim ersten Aufeinandertreffen, als sie sich vorstellte, empfand er so etwas wie eine riesige Barriere zwischen ihnen. Er wusste sofort, dass die Zusammenarbeit mit ihr nicht leicht sein würde. Sie war besserwisserisch, mischte sich gerne in laufende Ermittlungen ein, obwohl dies gar nicht zu ihren Aufgaben gehörte – und sie verstand sich mit Greulich. Außerdem kam sie aus Frankfurt, fuhr ein sündhaft teures Mercedes Coupé, das ihr mit Sicherheit ihr reicher Daddy, ein angesehener Anwalt, spendiert hatte, und lief in Kleidern rum, die sich ein Normalsterblicher niemals leisten konnte. Sie war zweiunddreißig und schon jetzt auf dem besten Weg zur Oberstaatsanwältin, wenn nicht irgendjemand ihrerKarrieregeilheit Einhalt gebot. Brandt mochte sie nicht, und sie mochte Brandt nicht. Und jetzt saß er hier, obgleich er eigentlich Besseres zu tun hatte.
»Ich kenne die Zahlen, die Frankfurter Kollegen arbeiten auf dem gleichen Niveau. Aber ich will jetzt nicht über Zahlen mit Ihnen reden, sondern über den aktuellen Fall. Haben Sie schon einen Verdächtigen?«
»Frau Klein, wir arbeiten seit ungefähr zehn Stunden an dem Fall, und bei dem Beruf, den Herr Schirner ausgeübt hat, kommen Hunderte von Personen als Tatverdächtige infrage. Wieso sind Sie eigentlich so erpicht darauf, dass dieser Fall so besonders behandelt wird?«
Elvira Klein löste sich vom Fenster und setzte sich wieder. Sie legte die Hände aneinander, die Fingerspitzen berührten die Nase.
»Weil ich Herrn Schirner kannte.«
Brandt kniff die Augen zusammen und beugte sich nach vorn, die Ellbogen auf dem Schreibtisch, die Hände gefaltet.
»Sie kannten Schirner? Woher, wenn ich fragen darf?«
»Er war mein Lehrer.«
»Aber Sie kommen doch aus Frankfurt. Wieso …«
»Ich lebe jetzt in Frankfurt, aber ich bin in Langen geboren und dort auch zur Schule gegangen. Unter anderem auf das Georg-Büchner-Gymnasium. Meine Eltern wohnen übrigens immer noch in Langen, falls Sie das auch interessiert«, sagte sie in diesem ihr eigenen Ton, der Brandt innerlich auf die Palme trieb. Er ließ es sich jedoch nicht anmerken. Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, seine Emotionen unter Kontrolle zu halten.
»Sie hatten Schirner in der Oberstufe?«
»Er unterrichtet ausschließlich die Oberstufe, wie Sie sicherlich längst wissen. Ich hatte ihn in Mathe und Ethik. Vielleicht verstehen Sie jetzt, weshalb ich so darauf dränge, dass …«
Brandt hob die Hand und unterbrach sie: »Erzählen Sie mir etwas über Schirner, denn bisher habe ich nur Lobeshymnen gehört.Vielleicht haben Sie ja ausnahmsweise etwas anderes auf Lager.«
»Tut mir Leid, aber da muss ich passen. Er war der beste Lehrer, den ich je hatte. Immer korrekt, immer …«
»… immer fair, immer loyal und so weiter und so fort«, fiel ihr Brandt erneut ins Wort. »Das habe ich mir schon den ganzen Tag anhören müssen. Aber dieser Mord muss einen Hintergrund haben …«
»Zweifeln Sie etwa an der Integrität von Herrn Schirner?«, fragte Elvira Klein scharf.
»Im Augenblick stelle ich mir nur Fragen. Zum Beispiel die, warum ein so integrer, korrekter, fairer Mann wie Schirner mit dreiundachtzig Messerstichen massakriert wurde. Warum hat man ihm die Genitalien abgeschnitten, und zwar unfachmännisch? Und warum erzählt mir keiner etwas über die Schwächen dieses so großartigen Mannes? Oder vielmehr, warum will mir keiner etwas über seine Schwächen erzählen?«
»Ich denke, es war ein Ritualmord«, sagte Elvira Klein mit hochgezogenen Brauen, ohne auf die letzte Bemerkung von Brandt einzugehen.
Brandt lachte auf und erwiderte: »Glauben Sie noch an den Weihnachtsmann?«
»Was soll diese Frage?«
»Würde ich an den Weihnachtsmann glauben, würde ich hier von einem Ritualmord ausgehen. Wir ermitteln in alle Richtungen, wie das so üblich ist. Außerdem stammt diese Theorie von Herrn Greulich, von dem Sie das ja wohl auch haben.«
»Aber es ist nicht Ihre Theorie, wenn ich Sie richtig verstehe.«
»Ich habe keine Theorie, ich habe lediglich begründete Zweifel.«
»Was für Zweifel? Oder ist das so geheim, dass Sie mir nichts darüber erzählen möchten?«, fragte sie spöttisch.
»Sie werden es erfahren, sobald ich mehr weiß. Sollte es wider Erwarten doch ein Ritualmord gewesen sein, so wird mein werterKollege Herr Greulich das sicher herausfinden. Und Sie werden dann bestimmt die Erste sein, die es
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