Tod eines Lehrers
Kollegin und ich haben heute mit allen Schülern gesprochen, unter anderem auch mit Frau Abele und Frau Esslinger. Dabei hat vor allem Frau Abele nicht gerade den glücklichsten Eindruck gemacht.«
»Es sind junge Menschen, die noch auf der Suche sind. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Können oder wollen Sie nicht? Ich weiß von Frau Abele, dass sie zu Hause Probleme hat …«
»Herr Brandt, alles, was man mir als Vertrauenslehrerin anvertraut, unterliegt der Schweigepflicht. Wenn man Ihnen freiwillig Auskunft gibt, gut, wenn nicht, ich werde nichts sagen. Außerdem dürfen Sie nicht vergessen, dass der Verlust von HerrnSchirner für alle ein Drama ist und viele Schüler sich jetzt fragen, wie es weitergehen wird. Er war ein Bilderbuchlehrer. Ich wünschte, es gäbe mehr von seiner Sorte, dann würde unser Bildungssystem nicht so kränkeln.«
»Was war denn das Besondere an seinen Unterrichtsmethoden?«
»Motivation. Schlicht und ergreifend Motivation. Er hat den Stoff so präsentiert, dass jeder zwangsläufig mitgerissen wurde. Das ist eine Fähigkeit, die leider nur wenige besitzen. Ich gebe mir jedenfalls die größte Mühe, seine Methoden zumindest ansatzweise anzuwenden.«
»Und es gibt niemanden, der mit ihm im Clinch lag? Schüler, Lehrer, vielleicht sogar Eltern?«
»Nicht dass ich wüsste. Natürlich gibt es Schüler, die auch mit dem besten Lehrer nicht zurechtkommen, aber ich könnte Ihnen keinen nennen, der deswegen einen Mord begehen würde. Außerdem kommt es auf unserer Schule so gut wie nie zu irgendwelchen gewalttätigen Auseinandersetzungen. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, gibt es auch keine Graffitis oder andere Schmierereien an den Wänden.«
»Und unter den Kollegen ist auch keiner, der ihn nicht mochte? Ich kann mir diese absolute Harmonie einfach nicht vorstellen. Keinerlei Konflikte, keine Auseinandersetzungen, keine lauten Worte, nichts dergleichen?«
»Ich muss Sie enttäuschen, aber es ist so. Konflikte sind zwar nie ganz zu vermeiden, aber bei uns halten sie sich absolut im Rahmen. Du meine Güte, jeder von uns hat mal einen schlechten Tag. Man kommt mit schlechter Laune in die Schule, irgendeiner macht eine dumme Bemerkung, und schon gibt ein Wort das andere. Nur, reicht das für einen Mord? Ich fürchte, Sie werden woanders suchen müssen.«
»Okay, belassen wir’s vorerst dabei. Vielen Dank für Ihre Offenheit und auch für den Tee. Ich werd mir gleich welchen besorgen.«
»Aber bitte nur aus dem Reformhaus. Auf keinen Fall Teebeutel. Im Reformhaus kann man in der Regel auch Literatur über Lapachotee kaufen. Sollten Sie auf jeden Fall tun und sich genau an die Anweisungen halten.«
Brandt reichte Anja Russler die Hand. Sie begleitete ihn zur Tür. Er blieb stehen und sagte: »Ich hätte doch noch eine Frage. Mir ist aufgefallen, dass nur sehr wenige Ausländer an Ihrer Schule sind. Hat das einen bestimmten Grund?«
»Nein, aber wir sind ein reines Gymnasium, und da ist der Ausländeranteil in der Regel geringer als an Gesamtschulen. Zu uns kann jeder kommen, der die nötigen Voraussetzungen mitbringt.«
»Tschüs und schönen Tag noch«, verabschiedete sich Brandt, stoppte aber mitten in der Bewegung und drehte sich noch mal um. »Diese junge Frau heute Vormittag, ich habe ihren Namen vergessen …«
»Elvira Klein. Was ist mit ihr?«
»Sind Sie befreundet oder …«
Anja Russler lachte warm auf, schüttelte den Kopf und antwortete: »Um Himmels willen, nein. Wir haben uns seit dem Abi nicht mehr gesehen, und das ist auch gut so. Ich weiß selber nicht, was sie in der Schule wollte. Wahrscheinlich war das mal wieder einer ihrer großen Auftritte, um sich in Erinnerung zu bringen. Ihr hat bisher wohl nur der passende Anlass gefehlt. Ich hatte nie einen Draht zu ihr, auch wenn sie vorhin so getan hat, als wären wir die besten Freundinnen. Ich glaube, keiner hat sie wirklich gemocht, weil sie jedem zeigen musste, dass sie etwas Besseres ist. Ihr Vater ist ein Promi-Anwalt, und mit ihr klarzukommen war fast unmöglich. Wenn es jemanden gibt, auf den der Begriff Zicke zutrifft, dann auf sie. Aber vielleicht hat sie sich ja auch geändert. Andererseits habe ich immer so getan, als würde ich auf ihrer Seite stehen.« Sie grinste und fuhr fort: »Hab ich vorhin nicht was von Heuchlern gesagt? Ich war auch so eine, wahrscheinlich bin ich’s immer noch.«
»Jetzt bin ich aber endgültig weg, ich habe Ihre Zeit schon viel zu lange in Anspruch genommen. Bis
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