Tod eines Lehrers
kennen seine Frau?«
»Nur von seinen Schilderungen, die allerdings sehr glaubhaft waren. Und nachdem ich sie einmal vor dem Haus beobachtet habe … Mein Gott, Trudchen vom Lande ist dagegen eine Hure. Kein Wunder, dass er seinen Trieb woanders ausgelebt hat.«
»Und seit wann ging das?«
»Von Oktober bis Dienstag. Am Dienstag war er das letzte Mal bei mir.«
»Wann am Dienstag?«
»Wie immer zwischen sechzehn und achtzehn Uhr.«
»Hm, das heißt, Sie gehören außer seiner Familie zu den letztenPersonen, die ihn lebend gesehen haben. Wirkte er vorgestern irgendwie nervöser als sonst, bedrückt oder ängstlich?«
»Nein, ganz und gar nicht. Wir haben miteinander geschlafen, und ein Mann, der unter starkem psychischem Druck steht, bringt’s in der Regel nicht. Nein, er wirkte weder ängstlich noch nervös. Wir hatten uns für heute verabredet, aber da hat uns jemand einen Strich durch die Rechnung gemacht. Aber so ist halt das Leben – unkalkulierbar.«
»Sie sind nicht verheiratet oder in einer festen Beziehung?«
»Weder noch. Ich brauche meine Freiheit, und bis jetzt bin ich sehr gut damit gefahren. Da ist keiner, der mir vorschreibt, was ich zu tun und zu lassen habe, keiner, auf den ich Rücksicht nehmen muss … Übrigens, bevor ich’s vergesse, ich war nicht die Einzige, mit der er was hatte. Fragen Sie doch mal Frau Russler, die kann Ihnen bestimmt eine Menge mehr über Rudolf erzählen«, sagte sie mit süffisantem Lächeln. »Er hat sich immer nur das beste Fleisch ausgesucht, ein Gourmet im wahrsten Sinne des Wortes. Er wusste eben, wo man besonders gut essen kann.«
»Sie mögen Frau Russler nicht?«
»Nicht mögen wäre zu viel gesagt. Wir gehen uns aus dem Weg, so weit das möglich ist. Ich habe aber nichts gegen sie persönlich, sie ist eine hervorragende Lehrkraft.«
»Wie lange sind Sie schon an der Schule?«
»Seit zwei Jahren. Davor habe ich in Frankfurt am Goethe-Gymnasium unterrichtet.«
»Und wie kam Ihre Liaison zustande?«
»Wir hatten eine Fortbildung, er hat mich zum Essen eingeladen, und ab da hat sich alles von allein entwickelt.«
»Hatte er Feinde innerhalb des Kollegiums? Ich meine, es kann doch sein, dass ein anderer Lehrer eifersüchtig oder neidisch auf ihn war, wenn es stimmt, was Sie mir erzählen.«
»Schon möglich, dass es den einen oder andern gibt, aber ich bin wahrlich keine Ausnahme, was die zwischenmenschlichenBeziehungen unter den Lehrern betrifft, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»So etwas Ähnliches habe ich heute schon mal gehört. Hatten Sie außer mit Herrn Schirner noch mit einem oder mehreren Lehrern der Schule …«
»Nein«, antwortete sie, bevor er die Frage zu Ende stellen konnte. »Rudolf, Herr Schirner, war der Einzige. Ich bin keine Nymphomanin, falls Sie das denken sollten. Es war ein Abenteuer, auf das ich mich eingelassen habe, und ich habe es nicht bereut. Manch einer mag sagen: Wie kann die bloß mit einem verheirateten Mann, der dazu noch fünfzehn Jahre älter ist? Ich habe ihn nicht gezwungen, er hat den ersten Schritt gemacht. Und ich beteuere, es tut mir in der Seele weh, dass er tot ist. Er hat so etwas nicht verdient. Er war ein großartiger Mann und ein großartiger Mensch. Er hat es verstanden, auf Frauen einzugehen, eine Gabe, die nicht viele Männer besitzen. Sein Einfühlungsvermögen war geradezu grandios. Ich nehme an, seinem Charme konnte sich kaum eine Frau entziehen. Nur seine Frau hat offenbar nicht zu würdigen gewusst, was sie an ihm hatte. Wir haben uns einmal lange über seine Ehe unterhalten, und er hat mir gesagt, dass er seine Frau liebt, aber nicht mehr mit ihr leben kann. Er konnte auch nicht mehr mit ihr reden, es gab keine Unterhaltungen zwischen ihnen, obwohl sie eine hervorragende Ausbildung genossen hat. Aber irgendwann muss etwas passiert sein, das sie zu dem gemacht hat, was sie heute ist. Egal, er hat gesagt, er würde sich gerne von ihr trennen, aber ich weiß, er hätte es nie getan, weil er diese mütterliche Fürsorge brauchte. Dazu kommt, dass sie schon seit über acht Jahren nicht mehr mit ihm geschlafen hat, und das war für einen Mann wie ihn natürlich die Hölle. Also suchte er sich für die körperlichen Bedürfnisse einen Ersatz. Und einer davon war ich. Allerdings habe ich schon mit dem Gedanken gespielt, die Sache zu beenden.«
»Und warum?«
»Ich sagte doch schon, ich brauche meine Freiheit. Rudolf hat angefangen mich einzuengen. Wir hatten den Dienstag und Donnerstag als
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