Tod eines Lehrers
Antworten auf mögliche Fragen zurechtzulegen. Er stieg aus – der eisige und böige Wind schien in dieser Ecke besonders eisig und böig zu sein –, schlug den Kragen seiner Jacke hoch und lief mit schnellen Schritten auf das Haus zu. Ihr Name stand neben der Klingel. Er drückte den Knopf, wartete und dachte schon, sein Weg wäre umsonst gewesen, als sich eine weibliche Stimme durch die Sprechanlage meldete.
»Frau Russler?«
»Ja.«
»Brandt, Kripo Offenbach. Ich hätte da noch ein paar Fragen.«
»Zweiter Stock, links.«
Er nahm jeweils zwei Stufen auf einmal. Anja Russler stand in der Tür und schien nicht sonderlich verwundert über sein Erscheinen zu sein.
»Entschuldigen Sie die Störung, aber …«
»Ich bin erst seit zehn Minuten daheim«, unterbrach sie ihn, »aber kommen Sie ruhig rein.« Sie hatte sich bereits umgezogen und trug jetzt eine leger geschnittene Jeans, ein flauschiges weißes Sweatshirt und an den Füßen dicke Wollsocken, die sie am unteren Ende der Wade umgekrempelt hatte. Es war angenehm warm, aber nicht zu warm, die Luft nicht so trocken wie bei ihm zu Hause. Zwei Duftlampen verbreiteten einen beinahe betörenden Duft. Anja Russler selbst sah jetzt wesentlich besser aus als in der Schule, etwas Magisches ging von ihr aus, etwas, das Brandt nicht beschreiben konnte.
»Sie wohnen allein?«
»Ja. Aber setzen Sie sich doch. Möchten Sie auch einen Tee?«
»Gerne.«
Sie ging in die Küche. Er schaute sich um, und was er sah, zeugte von gutem Geschmack. Die Wohnung war modern und nüchtern eingerichtet und strahlte trotzdem eine gemütliche Atmosphäre aus. Auf den hellgrauen Fliesen lagen scheinbar wahllos verteilt mehrere kleine Teppiche, die hellblaue Couchgarnitur passte zu der jungen Frau, genau wie die aus Kiefer gefertigte Essgruppe und der Schrank. An einer Wand war ein breites Bücherregal, zwei Bücher lagen auf dem Tisch, Kriminalromane.
Er hörte sie hantieren. Sie kam mit einem kleinen Honigtopf zurück, stellte ihn auf den Tisch und holte zwei Tassen aus dem Schrank. »Ich hoffe, Sie mögen Lapachotee.«
»Ich habe ihn noch nie getrunken.«
»Es dauert noch ungefähr fünf Minuten, bis er gezogen hat. Ich trinke jeden Tag zwei Tassen davon. Für die Inkas war Lapacho ein Heilmittel, sogar die Wikinger haben damit gehandelt.« Wieder was gelernt, dachte Brandt. Sie begab sich erneut in die Küche und kehrte kurz darauf mit einer Kanne zurück. Anja Russler setzte sich Brandt gegenüber in einen Sessel. »Was kann ich für Sie tun?«
»Was können Sie für mich tun? Ich hoffe, Sie können mir weiterhelfen, was den Tod von Herrn Schirner angeht.«
»Wieso ausgerechnet ich?«
»Um es kurz zu machen, das hier wurde heute im Sekretariat abgegeben«, erwiderte Brandt und reichte ihr den Zettel.
Sie las, schüttelte den Kopf und sagte: »Ich kann damit nichts anfangen.«
»Ich auch nicht, deshalb bin ich hier. Und ich glaube auch nicht, dass sich jemand einen üblen Scherz erlaubt hat.«
»Und wenn es doch nur ein übler Scherz ist?«
»Sie sind geschieden?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Diese Begegnung vorhin im Lehrerzimmer, als Sie mit Köhlerangesprochen wurden. Deshalb vermute ich, dass Sie verheiratet waren und jetzt geschieden sind.«
»Ja, es stimmt, ich war verheiratet, aber nur etwas über ein Jahr. Ich habe zu spät erkannt, dass die so genannte Liebe keine Liebe war. Und bevor ich mich innerlich zerfleische … Na ja, ich habe ihm meine Gefühle mitgeteilt, wir haben uns scheiden lassen, obwohl ich jetzt in Saus und Braus leben könnte, denn er ist nicht unvermögend, aber wir sind immer noch Freunde.«
»Wie standen Sie denn zu Herrn Schirner?«
»Was meinen Sie damit, wie ich zu ihm gestanden habe?«
»Also gut, dann formuliere ich die Frage eben anders. Waren Sie nur Kollegen oder lief da mehr zwischen Ihnen?«
Sie beugte sich nach vorn, schenkte den Tee ein, gab in ihre Tasse einen Löffel Honig und rührte um. »Ich weiß nicht, ob Sie auch Honig möchten, aber er verfeinert den Geschmack.«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
»Sie wollen also wissen, ob ich ein Verhältnis mit ihm hatte.« Sie nippte an dem noch heißen Tee und fuhr fort: »Früher oder später würden Sie’s ja sowieso rausfinden. Ja, ich hatte ein Verhältnis mit ihm, aber das konnte ich doch unmöglich in der Schule vor all den andern sagen. Allerdings habe ich es im letzten Herbst beendet, und zwar am 12. Oktober gegen dreiundzwanzig Uhr. Sie werden sich
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