Tod eines Lehrers
Traum von eben würde nicht das bedeuten, was sie in ihrem tiefsten Innern vermutete, nein, eigentlich wusste sie es, denn ihre Träume hatten noch nie gelogen. Natalia zog sich an, ließ im ganzen Haus das Licht brennen, nahm den Schlüssel und steckte instinktiv die Taschenlampe ein und zog die Tür hinter sich zu. Sie kannte den Weg, den er immer nahm, oft genug waren sie ihn gemeinsam gegangen. Nachdemer sie freigekauft und zu sich nach Hause gebracht hatte, hatten sie gleich am ersten Abend im September vor neun Jahren einen Spaziergang durch den Wald gemacht. Sie würde diesen Tag nie vergessen, denn es war ihr erster Tag seit Monaten in Freiheit gewesen. Keine Männer mehr, die ihre perversen Fantasien bei ihr in die Tat umsetzten, ganz gleich, ob sie es wollte oder nicht, kein Alkohol mehr, damit sie lockerer wurde, kein Druck mehr von dem Betreiber des Bordells, der auch nicht davor zurückschreckte, seine Hühnchen, wie er sie respektlos nannte, zu schlagen, wenn sie nicht genau das taten, was er befahl, und manchmal schlug er auch einfach nur so zu.
Doch dies war lange Vergangenheit, ihr Leben hatte sich zum Guten gewandelt, sie war glücklich, ihren gelernten Beruf ausüben zu können, sie hatte einen Mann gefunden, der zwar nicht ihr Traummann war, aber er hatte ihr ein Zuhause gegeben und unterstützte sie in allem, was sie tat. Natürlich wusste sie, dass es ihm nicht leicht fiel zu sehen, wie sie entschieden mehr Geld verdiente als er, aber er ließ sie zu keiner Zeit spüren, dass er neidisch oder eifersüchtig auf ihren Erfolg war. Und sie wusste auch, dass es in bestimmten Momenten an ihm nagte, eine Frau zu haben, die so viel Anerkennung genoss, während er nur ein eher bedeutungsloser Lehrer war. Aber der Grund für ihren Erfolg lag sicher in ihren russischen Wurzeln, an den seit Generationen überlieferten Heilmethoden, die mit der modernen Wissenschaft nur wenig gemein hatten. Natürlich behandelte sie auch konventionell, wenn Patienten dies wünschten oder Krankheiten vorlagen, die nach intensiven und modernen Behandlungsmethoden verlangten, aber die meisten verließen sich auf Natalias Gespür, genau jene Methode anzuwenden, die für den jeweiligen Patienten die richtige war. Es gab einige Ärzte, von denen sie als Kurpfuscherin und Quacksalberin bezeichnet wurde, doch sie ließ sich von derartigen Äußerungen nicht beeindrucken, und die Erfolge gaben ihr schließlich Recht. An all dies dachte sie in diesem Augenblick jedoch nicht. Ihre Gedankenkreisten nur darum, wo ihr Mann sein könnte, der nie so lange mit Dina unterwegs war, schon gar nicht nachts.
Sie ging mit schnellen Schritten durch die menschenleere Straße, warf einen kurzen Blick in die noch geöffnete Kneipe, doch nur zwei Männer saßen am Tresen, woraufhin Natalia gleich wieder kehrtmachte. Sie lief und lief und wurde immer schneller und schwitzte trotz der Kälte. Aus ihrem Mantel holte sie die Taschenlampe, um den Weg vor sich auszuleuchten, obwohl der Mond genügend Licht spendete. Mit einem Mal stockte ihr der Atem, sie sah schon von weitem etwas Großes auf dem Boden liegen. Sie rannte, bis sie ihn erkannte, ihn und neben ihm Dina.
Natalia schrie nicht, wie andere es getan hätten, sondern wurde stattdessen ganz ruhig. Sie beugte sich zu ihm hinunter – seine Augen waren weit aufgerissen, sein Mund zu einem Schrei geformt. Sie fühlte automatisch seinen Puls, doch da war nichts mehr, wie auch, wenn er hier schon seit zwei oder mehr Stunden lag, steif gefroren und kalt. Sein Mantel war blutdurchtränkt und stand weit auseinander, die Hose war geöffnet – es war ein Anblick, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Noch nie zuvor hatte sie so was gesehen. Doch Natalia rief nicht um Hilfe – wer hätte sie hier und um diese Zeit auch hören sollen? –, sondern rannte nach Hause, stürzte die Treppe hinauf und befahl sich dabei, nicht in Hektik zu verfallen, Ruhe zu bewahren und die Kontrolle zu behalten, wie sie es schon als Kind von ihrer Mutter und Großmutter beigebracht bekommen hatte. Sie nahm den Hörer von der Gabel, tippte die Nummer der Polizei ein und berichtete mit gefasster Stimme dem Beamten, was geschehen war und vor allem, wo. Er versprach, sofort einen Streifenwagen zum Tatort und einen anderen zu ihr zu schicken. Nach dem Telefonat holte sie eine Flasche Wodka und ein Glas aus dem Schrank, schenkte sich halb voll ein und trank es in einem Zug leer. Ihr war egal, ob es dem Baby schadete, sie
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