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Tod eines Mathematikers

Tod eines Mathematikers

Titel: Tod eines Mathematikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Herrnkind / Walter K. Ludwig
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den Lehnen, die Hände hingen schlaff herunter. Katzensteins Augen waren aufgerissen, starrten leblos an die Decke. Er war tot. Aus dem Augenwinkel sah Helga noch die Schubkarre, die vor Katzensteins Schreibtisch stand. Dann wurde ihr plötzlich schwindelig. Ihre Beine knickten ein; sie brach bewusstlos zusammen. Helga Willich tat noch ein paar Atemzüge, fiel ins Koma. Und war kurze Zeit später tot.
    *
    Nach dem misslungenen Besuch bei meinem Vater fuhr ich nach Hause und legte mich schlafen. Gegen Abend erwachte ich, weil Hans-Günther, mein Kater, auf mein Bett sprang und mir ins Ohr miaute. Ich kraulte sein rotes Fell. Sein Schnurren hob meine Laune. Hans-Günther ist der wichtigste Mann in meinem Leben. Zugegeben, er ist auch der einzige. Eine ganze Weile schon. Er kam vor dreieinhalb Jahren zu mir. Er taumelte orientierungslos und völlig verstört im Kreis auf der Straße vor meinem Haus. Die Autos brausten links und rechts an ihm vorbei. Manche hupten. Ich stürzte auf die Straße, wedelte mit den Armen, hielt den gesamten Verkehr an, hob den völlig verängstigten, zitternden Kater hoch – die Autofahrer warteten brav, nicht einer wagte es, zu hupen. Dann gab ich den Verkehr wieder frei. Im Treppenhaus traf ich Ludger, meinen damaligen Wohnungsnachbarn, seines Zeichens diplomierter Inka-Experte, erfolgloser Autor und Busfahrer. In meiner Wohnung gab ich dem Kater zu trinken, streichelte ihn und fragte – zugegebenermaßen ziemlich dämlich – »Na, mein Kleiner, wie heißt du denn?«
    »Was soll er denn jetzt sagen? Hans-Günther oder was?«, brummte Ludger, der aus Neugier mit uns gekommen war. Ich sah ihn verdutzt an – wir beide prusteten los vor Lachen. Und der Kater hatte einen Namen.
    Als ich nun aufstand, folgte mir Hans-Günther. In der Küche schüttete ich ein bisschen Trockenfutter in seinen leeren Napf. Dann ging ich ins Badezimmer und duschte. Heiß und lange, als könnte ich die Demütigung vom Vormittag abwaschen. Anschließend rieb ich mich mit dem sündhaft teuren Kokosnussöl ein, das die Haut laut Packungsbeilage in Seide verwandeln sollte.
    Der Gedanke, nun auch noch die erste Nacht des Jahres allein verbringen zu müssen, erschien mir unerträglich. Nackt, ohne mich darum zu scheren, dass die Nachbarn mich sehen konnten, weil ich Gardinen von jeher verabscheute, ging ich ins Wohnzimmer und legte New Year’s Day von U2 in den CD-Player.
    Ich ging zurück ins Badezimmer, schminkte mich sorgfältig. Kein Make-up für die Augen. Das erledigten die farbigen Kontaktlinsen. Meine Lippen färbte ich in einem Ton, den die Kosmetikfirma etwas platt Pflaume getauft hatte. Grün die Augen, lila der Mund. Eine Kombination, die man sehen muss, um zu begreifen, worin ihr Zauber liegt.
    Vor dem Kleiderschrank entschied ich mich für einen schwarzen Wollmini und einen tief ausgeschnittenen, schwarzen Pullover aus Kaschmir. Ich zog mir halterlose Strümpfe an und schlüpfte in meine hohen, schwarzen Stiefel. Ich begutachtete mich im Spiegel. Nichts, aber auch gar nichts, erinnerte mehr an die pummelige Kleine mit abgeklebter Hornbrille, die ich einst gewesen war.
    Ich zog mir den dicken Parka über und verließ die Wohnung. Die Kälte kroch mir die Beine hoch. Es war keine gute Idee gewesen, nur diese dünnen Strümpfe anzuziehen. Aber ich hatte keine Lust, umzukehren, ging stattdessen schneller. Die Straßen waren leer, die Schaufenster dunkel, in den wenigen Kneipen, die geöffnet waren, saßen kaum Leute.
    Nur Bei Carl flackerten Kerzen auf den Tischen, was ich durch die schmierigen Scheiben sehen konnte. An der Tür hing ein Plakat, das ein Konzert der Steckbrieflich Gesuchten ankündigte. Obwohl ich den Namen albern fand, ging ich in den Laden. Eine Nebelwand aus Zigarettenqualm schlug mir entgegen. Den Wirt interessierte offenbar weder das Rauchverbot noch, dass es eigentlich verboten war, an Feiertagen Konzerte zu veranstalten. Ich zahlte fünf Euro Eintritt, zog meinen Parka aus und ließ mich auf dem letzten freien Barhocker nieder. Meinen Mantel klemmte ich zwischen Hocker und Tresen.
    Ich war auf eine Deutlich-Ü50-Party vereinsamter Berufsjugendlicher geraten. Ergraute Kerle mit zotteligem Haar und gegerbten Gesichtern, über deren Bäuchen sich alberne Band-T-Shirts spannten. In die Jahre gekommene Weiber in tief sitzenden Jeans, die Augen schwarz umrandet wie in den Sechzigern, Haare, lang und wirr, wie ein Relikt aus ihrer Jugend, von dem sie sich partout nicht trennen

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