Tod eines Mathematikers
wollten.
Hinter dem Tresen stand Carl, der Wirt. Seine langen Haare und der Vollbart, der ihm bis auf die Brust reichte, ließen ihn aussehen wie einen ergrauten Weihnachtsmann. Er steckte gerade eine Flasche Hefeweizen in ein hohes Glas. Während das Bier ins Glas gluckerte, drehte er die Flasche zwischen Daumen und Finger. »Wie kann ich dich denn glücklich machen?«, grinste er mich an, ohne sich für seine von Kaffee und Nikotin braun gefärbten Zähne zu schämen. Ich bestellte mir einen Bourbon auf Eis. Für Zuckerpüppchen, die Prosecco tranken, hatte ich von jeher nur Verachtung übriggehabt.
Ich drehte mich gelangweilt auf meinem Hocker und ließ meinen Blick schweifen. An den Wänden, die in einem dunklen Grünton gestrichen waren und der Kneipe den Charme einer Höhle verliehen, hing eine Sammlung alter Porträtfotos, von denen vermutlich keines unter hundert Jahre alt war. Die Männer auf den Bildern trugen schwarze Anzüge, die Frauen lange Kleider. Ihre Gesichter waren blass, blickten starr in die Kamera. Nur hier und da war die Andeutung eines Lächelns zu erkennen. Eine Gesellschaft von Gespenstern, die auf das Kneipenpublikum herabsah. »Woher stammen die Fotos?«, fragte ich den Wirt, als er den Whisky vor mich auf den Tresen stellte. »Keine Ahnung«, antwortete er. »Hab die Kneipe so vom Vorbesitzer übernommen. Und der hat die Fotos, glaube ich, vom Sperrmüll.«
Die Steckbrieflich Gesuchten betraten die kleine Bühne neben dem Tresen. Die Bandmitglieder gehörten tatsächlich auf die Fahndungsliste, und zwar auf die der Geschmackspolizei. Alternde Männer, die bis zur Lächerlichkeit auf jung getrimmt waren. Der Sänger, ein Typ, der bestimmt bald seinen sechzigsten Geburtstag feierte, hatte sich ein Piratentuch um den Kopf gewickelt und trug eine Sonnenbrille. Um seinen Hals baumelte eine Kette mit Totenkopfanhänger. Der Drummer, der aussah wie der Zwillingsbruder von Freddy Krueger, setzte sich mit freiem Oberkörper hinters Schlagzeug. Auf die Brust hatte er sich einen Bundesadler stechen lassen, über dem sich sein weißes Haar kräuselte. Seine aufgepumpten Oberarme sahen verdächtig nach Anabolika aus. Der Keyboarder trug eine rote Jeans, wie sie Anfang der Achtzigerjahre modern gewesen war, und natürlich Converse-Chucks, Standardtreter aller Berufsjugendlichen. Die kahle Platte auf seinem Hinterkopf hielt ihn nicht davon ab, den Rest seines spärlichen und ergrauten Haupthaares zu einem dünnen Pferdeschwanz zu binden. »Frohes Neues allerseits. Ich …« Tschiiiiiiiiiiiii… Ein schrilles Pfeifen, das so laut war, dass ich mir schützend die Hände vor die Ohren hielt, schnitt ihm das Wort ab. Irgendjemand hatte sich mit der Steuerung der Anlage vertan. Als der Fehler einen Moment später behoben war, sagte der Pirat, der eine leicht nasale Stimme hatte, nur noch: »Wir legen jetzt einfach mal los.«
Die Steckbrieflich Gesuchten beschränkten sich auf das Repertoire unerreichbarer Kollegen, wie Deep Purple, Bon Jovi oder der Scorpions. Typische Abkupferer halt, die insgeheim hofften, halbwegs so gut zu sein wie die Originale. Das Publikum schien das Gestümper nicht zu stören. Die Frauen schüttelten ihre Mähnen, als seien sie Teenager. Irgendwo kreiste ein Joint, der Geruch von Cannabis zog durch den Raum. Fürs Kiffen hatte ich noch nie etwas übriggehabt. Ich trank lieber. Whisky oder Rotwein. Manchmal ein bisschen zu viel, zugegeben.
Der Einzige, der wirklich spielen konnte, war der Gitarrist. Er legte sich gerade für ein Solo ins Zeug. Sein Haar, das schwarz und von unzähligen silbernen Fäden durchzogen war, fiel ihm ins Gesicht. Es war, wie bei vielen Gitarristen, lang und zottelig, so als gebe es eine geheime Vorschrift. Er hielt seine Gitarre im Arm wie eine Geliebte. Konzentriert auf das Instrument, versunken im Spiel. Als ich sah, wie er mit seinen Fingern die Gitarre bearbeitete, bekam ich Lust, mit ihm zu schlafen.
Als er den Kopf in den Nacken warf, konnte ich sein Gesicht sehen. Die Akne, die ihm als Jugendlicher fürchterlich zugesetzt haben musste, ließ seine Haut aussehen, als hätte ihm jemand Säure ins Gesicht gespritzt. Wahrscheinlich hatte er lange keine Freundin gefunden und nur deshalb Gitarrespielen gelernt, um nach den Konzerten endlich Weiber abschleppen zu können.
Der Typ war vielleicht Anfang fünfzig, also locker fünfzehn Jahre älter als ich. Enthemmt durch den Whisky, versuchte ich, seinen Blick zu fangen. Zuerst sah er weg,
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