Tod eines Mathematikers
niemandem reden. Nichts sagen müssen. Ich bildete mir ein, dass mich die Trauergäste ansahen und tuschelten. »Das ist also seine Tochter. Journalistin. Schreibt über Kriminalfälle. Na ja.«
Unter Deck stand die Urne mit der Asche meines Vaters auf einem weiß gedeckten Stehtisch, was ich irgendwie pietätlos fand. In wenigen Stunden würde wahrscheinlich eine Hochzeitsgesellschaft an diesem Tisch mit Sektgläsern auf das Wohl des Brautpaares anstoßen.
Das Gesteck aus gelben Kunstblumen saß wie eine zu groß geratene Krone auf dem Urnendeckel. Mir war plötzlich ganz flau im Magen, meine Knie fingen an zu zittern. War das zu glauben? Von meinem cholerischen Vater, der mich wenige Stunden vor seinem Tod im Krankenhaus noch zusammengestaucht hatte, war nicht mehr übrig geblieben als ein Häufchen Asche, das in dieses kleine Gefäß passte.
Neben der Urne stand in einem silbernen Rahmen ein Foto von meinem Vater. Keine Ahnung, wo der Bestatter das Bild ausgegraben hatte, vielleicht aus einem alten Vorlesungsverzeichnis. Das Porträt war Jahrzehnte alt, zeigte meinen alten Herrn noch mit vollem, dunklem Haar. Er blickte direkt in die Kamera, lächelte nicht, sah aber auch nicht unfreundlich aus.
Tränen liefen mir über die Wangen. Doch ich trauerte nicht um meinen Vater, so wie ich ihn gekannt hatte. Ich trauerte um das Verhältnis, das wir nie gehabt hatten. Um den Vater, der mir von jeher gefehlt hatte. Und der mir immer fehlen würde.
Die Trauergäste rutschten unter Deck schweigend in die Bänke, hielten ein wenig Abstand zu mir. Nur der Heavy-Metal-Vampir sah ungeniert zu mir herüber. Hässlicher Vogel.
Der Kutter legte ab, schaukelte auf die Nordsee hinaus. Das Röhren des Motors mischte sich mit klassischer Musik, die irgendwo aus einem Lautsprecher klang.
Die Skyline von Bremerhaven zog vorüber. Die Silhouette des Atlantic Hotels, die aussah wie ein geblähtes Segel. Am Weserdeich trotzten ein paar wackere Spaziergänger mit übergezogenen Kapuzen dem Wind.
Um niemandem in die Augen sehen zu müssen, starrte ich auf die Tischdecke, studierte das filigrane Blumenmuster, das in die Leinentischdecke gewebt war.
Als kein Land mehr in Sicht war, ergriff der Trauerredner das Wort. Ließ das erfolgreiche Leben meines Vaters Revue passieren. 1945, nur wenige Monate nach dem Krieg, geboren. Sohn eines Metzgers, dem es gelungen war, seine kleine Schlachterei im Wirtschaftswunder binnen weniger Jahre zur Fleischfabrik auszubauen. »Schon als Neunjähriger saß er im Ladengeschäft seines Vaters an der Kasse, rechnete Preise aus und entdeckte seine Liebe zu Zahlen.« Der Trauerredner hatte wirklich recherchiert, wahrscheinlich alle ehemaligen Kollegen ausgequetscht. »Nachdem er die Fleischfabrik seines Vater nach dessen Tod verkauft hatte, hätte er ein sorgenfreies Leben führen können, weil er finanziell unabhängig war«, fuhr der Trauerredner fort und hob die Stimme wie zum Tusch, der etwas Besonderes ankündigen sollte. »Doch er widmete sein Leben der Mathematik. Brachte sie jungen Menschen nahe, bildete als Professor Lehrer aus und arbeitete bis zum Schluss.« Der Trauerredner leierte die Preise herunter, die mein Vater gewonnen hatte. Wieder einmal fühlte ich mich so klein, so dumm. Es war, als würde mein Vater mir ein letzte Mal aus der Urne zurufen: »Du kannst nichts. Du schaffst nichts. Du bist nichts.«
»Doch er war kein nüchterner Zahlenmensch, hat es nie an Herzenswärme vermissen lassen.« Ich glaubte, nicht richtig zu hören und war froh, als der Redner endlich den Mund hielt, die Urne nahm und wir ihm schweigend aufs Deck folgten.
Draußen empfing uns ein eisiger Wind. Der Kutter schaukelte, sodass wir uns am Geländer festhalten mussten. Ein paar Seevögel ließen sich im Wasser treiben, das aufgewühlt war und schwarz. Der Kapitän, ein bulliger Kerl mit weißem Rauschebart, übernahm die Urne. Die Seeleute bewegten sich im Gegensatz zu uns mit schlafwandlerischer Sicherheit auf dem schunkelnden Kahn. »Sie nehmen heute Abschied von Prof. Dr. Albert Katzenstein«, rief der Kapitän in den Wind, der seine Worte fast verschluckte. Dann beugte er sich über die Reling und ließ die Urne an einer Kette hinab ins Wasser.
Plötzlich schepperte es. Einmal. Zweimal. Dreimal. Die Urne schlug gegen den Schiffsrumpf, so als würde sich mein Vater mit einem letzten Gruß verabschieden, bevor er für immer in der Tiefe des Meeres verschwand. Das Blumengesteck löste sich vom Deckel,
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