Tod eines Mathematikers
ein. Im neuen Polizeipräsidium in der Vahr, das weit draußen lag, hatte es ja diesen Wasserschaden gegeben. Irgendwelche Leitungen waren eines Nachts geplatzt. Pfusch am Bau. Ganze Flure waren unter Wasser gesetzt worden. Der Schaden hatte sich als so enorm erwiesen, dass das Polizeipräsidium für die Zeit der Renovierungsarbeiten evakuiert und die einzelnen Abteilungen provisorisch über verschiedene Gebäude im gesamten Stadtgebiet verteilt worden waren. Deshalb saß die Mordkommission vorübergehend wieder am Wall. Und man traf die Kollegen zum Essenfassen im Siebten.
Harry fiel der Totenschädel wieder ein. »Na, Herr Kollege, wohin pinkeln wir denn heute?«, musste er sich seitdem ständig anhören. Fehlte eigentlich bloß noch, dass er zu einem Bußgeld verdonnert worden wäre. Wegen Umweltverschmutzung oder Erregung öffentlichen Ärgernisses. In Bremen musste man mit allem rechnen. Harry hatte in den vergangenen Tagen schon hin und wieder an den Totenschädel gedacht, einmal sogar von ihm geträumt, wie er ihn anstarrte, aus dunklen, leeren Augenhöhlen. Flehentlich? Lag in diesem toten Blick etwas Flehentliches? Unsinn, hatte Harry sich gedacht und den absurden Gedanken verdrängt, sich auf seine Arbeit konzentriert.
Doch plötzlich war er wieder da, während er an der Ausgabetheke der Kantine des Bremer Amtsgerichts stand, bei Kohl und Pinkel, hinter Fettsack Kühlborn. Kühlborn, Mord, Totenschädel.
»Na, schon irgendwelche Erkenntnisse in Sachen Totenschädel, Herr Kühlborn?«, fragte Harry betont beiläufig.
Kühlborn fuhr herum, starrte ihn an. »Was für’n Totenschädel?«, fragte er mit gespielter Ahnungslosigkeit zurück.
Doch Harry merkte sofort, dass Kühlborn genau wusste, wovon er sprach. Trotzdem antwortete er: »Na, der vom Neujahrstag. Ich hab den doch gefunden.«
Kühlborn warf ihm einen abschätzigen Blick zu. »Ach, Sie waren das. Nee, was für Erkenntnisse?«
»Zum Beispiel über die Todesursache. Ob Mann oder Frau, die Identität. Irgendwas haben Ihre Ermittlungen doch bestimmt ergeben.«
»Schon möglich!«, blaffte Kühlborn. Dabei zitterte das Tablett leicht in seinen Händen. »Aber selbst, wenn es was Neues geben sollte, werde ich das sicherlich nicht mit Ihnen erörtern«, schnauzte der Moko-Chef Harry an und ließ ihn stehen wie einen dummen Schuljungen.
Harry füllte Kohl und Pinkel auf seinen Teller und sah sich nach einem geeigneten Sitzplatz um. Ganz hinten rechts, an einem Tisch neben der Fensterfront, von wo man den besten Blick auf die Dächer der Stadt hatte und den alten Wasserturm, die umgekippte Kommode, sehen konnte, saß Heiner Blum, mit dem Harry auf die Polizeischule gegangen war. »Mensch, Harry, altes Haus, dass man dich mal wieder sieht«, begrüßte Blum ihn und schob die Glasflasche, in der eine Sonnenblume aus Kunststoff steckte, ein wenig zur Seite, um Platz zu schaffen.
Nachdem sie einige Belanglosigkeiten ausgetauscht hatten und Blum ein paar unvermeidliche Witze über Harrys Fund am Neujahrsmorgen gerissen hatte, kam Tenge auf den Punkt. »Sag mal, was ist mit dem Fettsack los?«
»Was für’n Fettsack?«
»Na, euer Fettsack.«
»Ach, der Fettsack. Du meinst meinen disziplinarischen Vorgesetzten.« Blum senkte die Stimme. In der Gerichtskantine war es so hellhörig, dass man den Gesprächen an anderen Tischen mühelos lauschen konnte. Doch Blum und Harry saßen weit weg von Kühlborn, der sich an einem der vorderen Tische im Schatten der Birkenfeige neben ein paar Staatsanwälten niedergelassen hatte. »Mit dem ist nicht mehr viel los. Eigentlich gar nichts mehr«, flüsterte Blum Harry über seinen Teller zu.
»Der hat mich eben ziemlich blöd angemacht.«
»Angemacht? Dich? Haste ihm die letzten Pinkel weggeschnappt?«
»Hähähä, rasend komisch.«
Blum gluckste vor Vergnügen.
Harry schilderte, was sich an der Essensausgabe abgespielt hatte. Blum wurde schlagartig ernst und warf einen Blick Richtung Kühlborns Tisch. Sein Chef war allerdings so mit Kohl und Pinkel beschäftigt, dass er nichts um sich herum wahrnahm. Blum räusperte sich und dämpfte abermals seine Stimme. »Harry, es muss aber wirklich unter uns bleiben. Da läuft zurzeit bei uns einiges sehr merkwürdig. Kühlborn will nicht richtig ran an den Speck. Keine Öffentlichkeit. Strengste Geheimhaltung. Wir sollen alte Spuren noch mal abarbeiten. Aber natürlich nur, wenn Zeit ist. Und natürlich haben wir nie Zeit, weil immer viel zu tun ist. Alles andere hat immer
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