Tod eines Mathematikers
Glintenkamp, als er sich in den Feierabend verabschiedete.
Tenge revanchierte sich mit einem liebevollen: »Leck mich!«
Draußen war es längst dunkel. Langsam leerte sich das Polizeirevier. Das übrige Gebäude, das noch die Stadtbibliothek beherbergte, war ohnehin schon längst menschenleer. Das Polizeirevier Innenstadt war, im Gegensatz zu den anderen Abteilungen, vor gut zehn Jahren nicht in das neue Polizeipräsidium in die Vahr umgezogen, sondern im alten Polizeihaus geblieben.
Die Kollegen, die Schicht hatten, befanden sich allesamt auf Streife. Herzog, der Dienstgruppenleiter, und sein Vertreter Kellermann saßen vor dem Fernseher. Im Olympiastadion in Berlin spielte der SV Werder gegen Hertha BSC. Herzog und Kellermann waren fanatische Werderfans, würden die nächsten hundertfünf Minuten damit beschäftigt sein, sich auf das Spiel und den Polizeifunk gleichzeitig zu konzentrieren. Wenn Kollegen von der Streife zurückkamen, würden sie sich ebenfalls vor dem Fernseher niederlassen. Harry blickte auf seine Armbanduhr. Zwanzig Uhr dreißig, das Spiel hatte gerade angefangen. Der richtige Zeitpunkt war gekommen. Kellermann und Herzog nahmen keine Notiz von ihm, starrten gebannt auf die Mattscheibe, die Mannschaft lief gerade unter großem Getöse ins Stadion. Harry hätte das Spiel auch gerne geguckt. Aber es gab jetzt Wichtigeres.
Kühlborn und seine Truppe waren wegen des Wasserschadens im oberen Stockwerk des ehemaligen Polizeihauses untergekommen. Ideal für Harrys Vorhaben.
Mit einem Schnellhefter unterm Arm, der den Eindruck erwecken sollte, er sei in offizieller Mission unterwegs, betrat er den Aufzug und fuhr hinauf in den fünften Stock.
Oben angekommen, trat Harry aus dem Fahrstuhl in die Dunkelheit. Er blieb einen Moment auf dem Flur stehen und lauschte. Alles still. Die Kollegen von der Mordkommission saßen wahrscheinlich allesamt zu Hause vor ihren Fernsehern, zischten ihre Bierchen und guckten Werder. Harry tastete nach dem Lichtschalter und legte ihn um. Dann suchte er die Türen ab, bis er auf einem Computerausdruck, der einfach an die Tür geklebt war, las: Moko Bremen.
Tenge sah sich vorsichtig um, lauschte. Nichts. Nur das leise Rauschen der Heizungsanlage. Er war allein. Die Tür war nicht, wie sonst üblich, elektronisch gesichert, sondern bloß mit einem einfachen Sicherheitsschloss ausgestattet. Kein Problem für jemanden, der seit achtundzwanzig Jahren im Polizeidienst war. Harry wunderte sich über den Leichtsinn der Mordkollegen. Wahrscheinlich war der Antrag auf eine elektronische Sicherung längst gestellt, aber bis er bearbeitet und genehmigt war, würde die Kühlborn-Bande längst wieder in ihrem angestammten Revier im Polizeipräsidium in der Vahr sein. Harry zog ein paar dünne Latexhandschuhe aus seiner Hosentasche und streifte sie über. Ein paar geübte Handgriffe und er war drinnen. Er schaltete das Licht ein – und hätte am liebsten gleich wieder auf dem Absatz kehrtgemacht. Das Großraumbüro wirkte weniger wie ein Zentrum ernsthafter Ermittlungsarbeit, nicht wie der Arbeitsplatz seriöser Beamter, sondern war eine verqualmte Bude voller überquellender Aschenbecher, halb leerer Kaffeebecher, Essensreste und dreckigem Geschirr. Kühlborn und seine Chaotentruppe schienen sich hier bestens eingerichtet zu haben und sich wie zu Hause zu fühlen. Doch je länger Harry das Chaos studierte, desto mehr glaubte er, doch so etwas wie Strukturen erkennen zu können. Schriftstücke lagen auf den Schreibtischen und über den Boden verteilt – aber alle durchnummeriert. An einer Wand hing eine große Schautafel, auf der die Namen von fünf Frauen standen, jeweils versehen mit einem Datum, daneben ein Foto. Hinter einem Namen – Nicole Wollenbeck – waren zwei Fotos gepinnt. Das Bild einer lebenden Frau und das eines Totenschädels – Harrys Fundstück.
Er holte tief Luft. Der Schädel hatte einen Namen. Nicole Wollenbeck. Einundzwanzig Jahre, Studentin. Mathematik und Sport auf Lehramt. Verschwunden am 4. April 1990 las er die hingeworfene Schrift auf der Pappe neben dem Foto. Harry trat nahe an das Foto heran.
»Hallo, Nicole«, flüsterte er heiser und kam sich schon ein bisschen blöd vor. Nicole war eine auffallend hübsche, junge Frau gewesen. Voller Übermut und Neugier auf das Leben strahlte sie in die Kamera. Wäre sie ihm zu Lebzeiten begegnet, Harry hätte sich auf der Stelle in sie verknallt. Sein Blick wanderte zu dem Foto daneben, auf dem ihr
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