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Tod eines Mathematikers

Tod eines Mathematikers

Titel: Tod eines Mathematikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Herrnkind / Walter K. Ludwig
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Vorrang. Unglaublich, das Ganze. Eigentlich müsste man der Presse mal stecken, wie der arbeitet …«
    Tenge hörte aufmerksam zu. Er traute seinen Ohren nicht. Wollte ihn Blum verarschen? Was Kühlborn da trieb, grenzte an Strafvereitelung im Amt. Blum war zwar für seinen etwas schrägen Humor bekannt. Auch für missglückte Witze. Oft fehlte ihm das Fingerspitzengefühl. Aber er wusste, wo die Grenze war. Und wenn es drauf ankam, hatte man sich immer auf ihn verlassen können. Es gab keinen Grund, an dem, was er sagte, zu zweifeln. Was die Angelegenheit aber nicht erfreulicher machte. Plötzlich war er wieder da, der Totenschädel. Er sah ihn an.
    Flehentlich? Flehentlich.
    *
    Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Betäubt. Simon Schröder, mein Chef, gab mir sofort frei, nachdem ich ins Telefon geschluchzt hatte, dass mein Vater gestorben sei. »Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.« Eine Stunde später stand der Redaktionsbote vor meiner Tür, brachte mir einen Strauß weißer Callas und eine Schachtel Katzenzungen von Hachez. Alexandra, meine Liebe, ich weiß, dass Dich nichts auf der Welt trösten kann. Aber wir wollen, dass Du weißt, dass wir in der Redaktion alle an Dich denken, hatte Schröder auf eine Beileidskarte geschrieben. Er war der beste Chef, den man sich wünschen konnte.
    Wie in Trance machte ich mich daran, die Formalien zu erledigen. Ich bin unendlich traurig, schrieb ich in die Todesanzeige. Und das war ernst gemeint. Noch ehrlicher wäre gewesen, wenn ich hinzugefügt hätte: Ich schäme mich so.
    Natürlich hatte ich meinen Vater nicht umbringen wollen. Diese absurde Idee war aus meiner Wut geboren, weil er mich rausgeschmissen hatte. Wissen Sie, wenn man so lange als Polizeireporterin arbeitet wie ich, fängt man irgendwann an zu spinnen. Als Therapeut haben Sie doch sicher Nietzsche gelesen, nicht? Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. Da ist echt was dran. Wenn man sich täglich mit menschlichen Abgründen beschäftigt, gewöhnt man sich an das Böse, stumpft ab, reißt Witze drüber. »Den mach ich kalt«, sagt man, wenn man sich über jemanden ärgert. Kommt einem ganz leicht über die Lippen. Der Lieblingsspruch von meinem neuen Kollegen Matze aus Berlin lautet: »Wenn Blut fließt, klingelt die Kasse.« Also, ich habe wirklich nie ernsthaft vorgehabt, meinen Vater umzubringen. Ehrlich. Sie glauben mir doch, dass ich unschuldig bin? Oder?
    Mein Vater hatte sich immer eine Seebestattung gewünscht. »Ich will nicht, dass mich die Maden auffressen«, hatte er zu meiner Mutter gesagt, als meine Tante, also seine Schwester, gestorben war und wir sie in unserer Familiengruft auf dem Riensberger Friedhof beisetzten. Schon viele Jahre her.
    In Bremerhaven war es noch kälter als in Bremen. Ein rauer Wind fegte über den Hafen. Die Nordsee war aufgewühlt und dunkelgrau wie der Himmel. Das Krächzen der Möwen klang wehmütig, jedenfalls bildete ich mir das ein.
    Ich wusste nicht, ob und wie viele Trauergäste kommen würden. Der Termin für die Seebestattung hatte in der Todesanzeige gestanden, dem Bestattungsunternehmer hatte ich die komplette Organisation überlassen. Mir fehlte einfach die Kraft.
    Als ich am Hafen ankam, traf ich auf eine kleine Gruppe schwarz gekleideter Leute. Männer Mitte sechzig, wie mein Vater. Ein paar Frauen. Wahrscheinlich allesamt ehemalige Kollegen von der Uni. Etwas abseits stand ein Typ, der deutlich jünger war, vielleicht Anfang vierzig, wahrscheinlich ein ehemaliger Student, den mein Vater zum Mathefolterknecht abgerichtet hatte. Er sah aus wie ein alternder Heavy-Metal-Fan. Schwarzes, halblanges Haar, leicht gewellt. Seine Gesichtshaut war unnatürlich blass, so als hätte er mit Puder nachgeholfen. Er hätte sich nur noch ein Vampirgebiss einsetzen müssen, um als Idealbesetzung für die Hauptrolle in einem Draculafilm durchzugehen. Der Wind blähte seinen langen, schwarzen Ledermantel. Hastig zog er an einer Selbstgedrehten. Wahrscheinlich Schwarzer Krauser.
    Ich kannte keinen der Trauergäste und legte auch keinen Wert darauf, ihre Bekanntschaft zu machen. Und sie wussten auch nicht, wer ich war. Erst als der Kapitän mir am Bord des Kutters die Hand schüttelte und mir herzliches Beileid wünschte, schienen sie zu begreifen, dass ich Katzensteins Tochter war. Doch sie kamen nicht auf mich zu. In der Todesanzeige hatte ich ausdrücklich darum gebeten, von Beileidsbekundungen abzusehen. Ich wollte mit

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