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Tod eines Mathematikers

Tod eines Mathematikers

Titel: Tod eines Mathematikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Herrnkind / Walter K. Ludwig
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sah, sagte er nur: »Den hat die Mutter aus dem Nest geworfen. Der ist krank. Der muss sterben. Am besten erledige ich das gleich …« Meine Mutter schwieg, ging aus dem Zimmer in die Küche.
    »Nein, nein!«, schrie ich und packte meinen Vater mit beiden Händen am Arm. Doch er schüttelte mich ab. Der Vogel hüpfte aufgeregt auf und ab, so als würde er sein Schicksal ahnen. Mein Vater nahm den Karton. »Du bleibst hier«, ermahnte er mich und schloss die Kinderzimmertür.
    Im Keller lag in einem Safe die alte Pistole meines Großvaters. Einen Moment lang war es ganz still im Haus. Vorsichtig öffnete ich die Tür vom Kinderzimmer und lauschte. Und konnte hören, wie mein Vater die Kellertreppe runterging. Wenig später quietschte die Tür zum Wintergarten leise. Dann war es wieder still.
    Plötzlich: ein Schuss. Ich schlug die Tür zu, warf mich auf mein Bett, kniff die Augen zusammen und presste meine Hände auf die Ohren. Trotzdem hörte ich den zweiten Schuss. Und einen dritten. Wahrscheinlich hüpfte das Tier über den Rasen, während mein Vater es verfolgte, zielte, danebenschoss und wieder anlegte.
    Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich traute, die Hände von den Ohren zu nehmen. Unten hörte ich Schritte. Mein Vater ging wahrscheinlich wieder in den Keller, um die Waffe wegzubringen. Kurz darauf rauschte das Wasser im Bad. Er wusch sich die Hände. Wenig später saßen wir am Abendbrottisch. Keiner sagte ein Wort. Ich rührte keinen Bissen an, nur mein Vater aß mit großem Appetit, wirkte entspannt, geradezu erlöst.
    Wir sprachen nie wieder über die Hinrichtung des Vogels. Aber meine Mutter tat etwas, das ich ihr nie zugetraut hätte. Sie holte die Pistole aus dem Safe im Keller und steckte sie in eine Plastiktüte. Dann fuhr sie mit mir über die Autobahn zum Grundbergsee und warf die Waffe hinein.
    »Wenigstens kann er damit kein Unheil mehr anrichten«, sagte sie.
    Ich löste meinen Blick von den Rhododendren. Sollten die Mathematiker eine Dependance ihrer blöden Stiftung in diesem Haus eröffnen. Nie wieder wollte ich hierher zurück. In diesem Räumen wohnten zu viele Geister.
    Ich ging die Treppe hoch ins Dachgeschoss, wo mein Zimmer gewesen war. Ob mein alter Schreibtisch noch da war, an dem ich sowieso nie Hausaufgaben gemacht hatte? Mein schmiedeeisernes Bett, der alte Bauernkleiderschrank, meine Bücher? Vorsichtig drückte ich die Klinke herunter. Ich schaltete das Licht an. Die Möbel waren verschwunden. Mein altes Zimmer war nun ein Abstellraum, in dem sich Pappkartons stapelten. Ich zog einen Karton zu mir heran und öffnete ihn. Ein muffiger Geruch schlug mir entgegen. Im Inneren lag, fein säuberlich zusammengelegt, die Garderobe meiner Mutter. Ich holte ein Kleidungsstück heraus. Es war ein Zweiteiler aus Seide, türkis mit gelben Einsprengseln. Meine Mutter hatte sich das Teil selbst genäht. Ich ließ den Stoff durch meine Finger gleiten, befühlte die Nähte. Wie sorgsam meine Mutter gearbeitet hatte, wie eine professionelle Schneiderin. Ich knüllte die Kleidungsstücke zusammen und steckte sie in meine Umhängetasche. Auch der nächste Karton war vollgestopft mit alten Kleidern. Kleider, überall Kleider. Ein paar Briefe. Und nichts mehr von mir, nicht ein T-Shirt, so als hätte ich nie in diesem Zimmer gelebt. Als hätte es mich nie gegeben. Mein Vater musste alles entsorgt haben. Die Möbel auf dem Sperrmüll, meine Klamotten in der Altkleidersammlung.
    Es dauerte etwa eine Viertelstunde, bevor ich, versteckt in einem Kissenbezug, die Schmuckschatulle meiner Mutter fand. Die Stücke lagen alle durcheinander, doch so weit ich es überblicken konnte, war alles noch da. Das breite goldene Armband, das mein Vater ihr einmal zu Weihnachten geschenkt hatte. Perlenketten, Ringe. Ich steckte das Kästchen ebenfalls ein. Ich würde ein Umzugsunternehmen beauftragen, das mir die Kisten mit den Klamotten nach Hause schaffte, wo ich sie in Ruhe sichten konnte.
    Plötzlich hörte ich im Erdgeschoss ein Poltern. Jemand war im Haus. Wahrscheinlich Clooney oder irgendein anderer Mathematiker, die konnten ja kommen und gehen, wann sie wollten, mussten sich nicht bei mir anmelden, war ja jetzt ihr Haus.
    Ich verließ mein altes Zimmer, ging die Treppe hinunter.
    »Hallo«, rief ich. Keine Antwort. »Ist da jemand? Professor Freitag?« Stille. Die Stufen knarrten unter meinen Schritten.
    Die Tür zum Arbeitszimmer meines Vaters stand sperrangelweit offen.
    »Hallo?«, fragte ich noch mal.

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