Tod eines Mathematikers
Nichts. Ich ging den Flur entlang, blieb vor dem Zimmer stehen, sah hinein. Chaos. Bücher waren aus den Regalen gerissen. Der Sessel meines Vaters war umgestoßen. Die Schubladen vom Schreibtisch waren rausgerissen. Der Inhalt auf dem Boden verstreut. Zettel, Stifte, Unterlagen. Auf dem Schreibtisch verriet ein heller Fleck auf dem Holz, dass der Laptop verschwunden war. Jemand war im Arbeitszimmer meines Vaters gewesen und hatte etwas gesucht. Ich rannte aus dem Raum. Die Haustür war geschlossen. Ich lief durchs Wohnzimmer zum Wintergarten. Tatsächlich. Die Tür war nur angelehnt. Der Unbekannte war durch den Wintergarten geflohen. Ich öffnete die Tür, lief die Stufen hinunter in den Garten. Auf dem frischen Schnee waren Fußspuren zu sehen. Große Spuren, die von einem Mann stammen mussten. Die Sohle hatte ein auffälliges gezacktes Muster, wie ein umgekippter Tannenbaum. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was das bedeutete: Der Mörder meines Vaters war zurückgekehrt. Und er hatte etwas gesucht.
*
Hier war es also passiert. In der Butjadinger Straße, Kreuzung Roter Sand, Stadtteil Woltmershausen. Hier war Nicole Wollenbeck verschwunden. Beziehungsweise: Hier war sie zum letzten Mal gesehen worden. Eine Kreuzung, mäßig befahren. Rundherum Mietsblocks, grau, mit Fenstern und Türen, die weiß gestrichen waren. Eine Schule. Vor der Schule eine Parkbucht. Viel Grün, trotzdem war die Kreuzung gut einsehbar. Unfassbar, dass niemand etwas gemerkt haben sollte.
Nicole Wollenbeck hatte eine Freundin besucht. Um kurz vor neunzehn Uhr hatte sie sich verabschiedet, war in Richtung Bushaltestelle Reedeich gegangen, um von dort nach Hause in die Neustadt zu fahren. Ein umständlicher Weg. Nicole musste etwa fünf Minuten zu Fuß gehen, in der Pappelstraße umsteigen, noch mal zu Fuß in die Rüdesheimer Straße gehen, wo sie wohnte. Doch schon an der Bushaltestelle war Nicole Wollenbeck wahrscheinlich nicht mehr angekommen. Die Fahrgäste der Linie 63, die an diesem Abend mit fünf Minuten Verspätung abgefahren war, konnten sich jedenfalls nicht an die Studentin erinnern. So stand es in den Akten.
Harry Tenge war ratlos. Es war neunzehn Uhr, noch hell, wie damals. Bereits zweimal war er die Strecke abgegangen, von der Butjadinger Straße zur Haltestelle und wieder zurück. Autos fuhren die Straße entlang, ein paar Leute waren unterwegs, Mieter sahen aus ihren Fenstern, was den Fall nur noch mysteriöser machte.
Plötzlich kam sich Harry irgendwie lächerlich vor. Was er gerade machte, war albern. Die Kollegen von der Kripo hatten vor zwanzig Jahren dasselbe getan. Ohne Ergebnis. Sollte er die Angelegenheit nicht lieber vergessen, bevor er sich endgültig zum Gespött der Kollegen machte? Oder er ein Verfahren wegen Amtsanmaßung am Hals hatte? Schlagartig wurde ihm bewusst, dass es dafür bereits zu spät war. Es gab kein Zurück mehr. Er hatte es Nicole schließlich versprochen. Und ihrer Mutter.
Simon Schröder hatte er noch nicht erreicht. Und auch mit Alexandra Katzenstein musste er unbedingt sprechen. Vielleicht konnten die Journalisten ihm weiterhelfen.
Harry schloss die Augen. Er sah nicht den Totenschädel. Er sah die lebende Nicole. Sie lächelte, sah ihn an, aus ihren grünen Augen. Was ist hier passiert, Nicole, fragte er, wem bist du über den Weg gelaufen? Wieso hat keiner was gemerkt? Nur eines aber war sonnenklar: Der Mörder war ein hohes Risiko eingegangen. Er war raffiniert gewesen. Und dreist. Unglaublich dreist.
*
Der Polizeibeamte, der meine Anzeige wegen des Einbruchs bei meinem Vater aufnahm, sah mich mitleidig an. Er verschwand, telefonierte. Dann kam er zurück. Und sein Blick erschien mir noch ein wenig mitleidiger. »Frau Katzenstein, das mit ihrem Vater tut mir wirklich sehr leid. Aber sein Rechner ist nicht geklaut worden. Er steht in der Asservatenkammer. Die Mordkommission hat nach dem Abschluss des Todesermittlungsverfahrens nur vergessen, ihn wieder herauszugeben. Es tut den Kollegen unheimlich leid, aber die hatten in der letzten Zeit sehr viel zu tun. Sie können sich den Laptop abholen. Die Kollegen dachten, Ihr Vater hätte vielleicht auf seinem Rechner einen Abschiedsbrief hinterlassen. Aber es ist ihnen nicht gelungen, das Passwort für den Zugang zu knacken, nicht mal mit einer Entschlüsselungssoftware. Wahrscheinlich war das ein ganz gewöhnlicher Einbrecher, der da ins Haus Ihres Vaters eingestiegen ist. Die Villa steht ja auch schon eine ganze Zeit leer.
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